Ich habe in zwei großen Etappen bemerkenswert gut geschlafen und gerade auch gut gefrühstückt. Der Kaffee ist ein Genuss und das auf Frischkäse, Gurke und zwei kleine Scheiben Vollkornbrot reduzierte Essen gefällt mir.
Jetzt freue ich mich, es mag seltsam klingen, das ist mir bewusst, aber ich freue mich auf die Weiterarbeit an meinem neuen Projekt – das Projekt „Finale“. Es ist vor allem ein Schreibprojekt, in und mit dem ich mein mir verbleibendes Leben zu verstehen und zu verarbeiten suche. Ich bin im Finale! Das fühlt sich ganz anders an als das Hadern, Grübeln und Grämen, das durchaus auch an die Tür meines Herzens klopft und in mir Einzug halten will.
Für Außenstehende und vor allem für Leute, die mich nicht kennen, mag das alles seltsam klingen. Vielleicht stark pathetisch oder total überzogen und am Ernst der Lage völlig vorbei. Und vielleicht auch auf realitätsfremde Weise euphorisiert und abgehoben.
Ich kann das verstehen, aber meine Realität ist eben – Gott sei Dank! – eine andere. Und eine, die nicht an der Schwere der Todesnähe vorbei will, sondern ihren mitten darin (österlich!) keimenden und blühenden Lebenskern sucht und kultivieren will.
Mein Weg zum Sterben ist nicht der der Verdrängung oder des Versuchs, noch möglichst viel zu erleben. Ich will einen anderen Weg gehen, den ich jetzt einmal als den Weg des dankbaren Herzens bezeichnen möchte.
Wie komme ich auf so etwas?
Natürlich hängt das eng mit meinem persönlichen Lebens- und Berufsweg zusammen: Ich denke und spreche als Pfarrer.
Was ist das besondere daran?
Ich sehe es in dem, was ich als gelenkte Wahrnehmung bezeichne.
Früher hätte ich an dieser Stelle gern und lange über die narrative Konstruktion unserer Lebenswirklichkeit philosophiert. Jetzt meide ich solche Abstraktionen.
Die Lebenswahrheit liegt nicht im Philosophischen, sondern im Biografischen. Und meine Art des Umgangs mit den Lebenserfahrungen wurzelt wesentlich in Psalm 103,2: Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Deshalb jetzt also zurück zu meiner Chronik (diesen Terminus verdanke ich Hanns-Josef Ortheil, der mir am Ende zu einem ganz wichtigen Schriftsteller und Wegweiser geworden ist).
Wenn ich nach einem Anfang für mein chronikalisches Erzählen suche, das zugleich den Charakter einer Anamnese haben könnte, muss ich gar nicht weit suchen.
Der Anfang dieses Weges liegt in unserer letzten. (letzten?!) Urlaubsreise vom 05. – 12. Oktober in den Schwarzwald. Es waren sonnige Spätsommertage in St. Märgen, wo wir eine Ferienwohnung mitten im Wald gemietet hatten. Das Wiedersehen mit C und M in ihrem neuen Zuhause in Freiburg, die gemeinsame Fahrt ins französische Kaysersberg und Colmar, die schöne Umgebung in St. Märgen, am Tittisee und zuletzt in Triberg mit seinem grandiosen Wasserfall, das alles liegt nur etwa drei Wochen zurück.
Ich unterbreche meine „chronikalen Notizen“ (Ortheil) für die neuesten Nachrichten von heute:
Meine diagnostische Behandlung hier in Altscherbitz geht weiter. Heute Vormittag wurde von mir ein EEG gemacht. Jetzt ist es schon nach 16 Uhr.
Ich habe viel telefoniert: mit dem Beauftragten von der Landeskirche, der Interesse an unserem Seniorenprojekt TEILWEISE geäußert hat.
Mit unserer Freundin C, die zeitgleich zu mir mit starken Rückenschmerzen zu Hause liegt. Sie war schon in der Klinik, wurde aber ergebnislos wieder fortgeschickt und weiß nicht, was mit ihr los ist. Das finde ich sehr schlimm.
Und mit meiner Tochter, die mich wiederholt nach meinem Befinden gefragt hat. Ich habe ihr gesagt, dass die Diagnostik noch andauert. Meine Frau soll von der Diagnose als erste erfahren, morgen, wenn unser Enkel wieder nach Berlin fährt.


Von Dr. Heuschkel, der mir heute Vormittag ein Bild von meinem gestrigen MRT gezeigt hat, bekomme ich jetzt weitere Informationen.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Es könnte ein hirneigener Turmor sein, was ungünstiger wäre, oder eine Metastase eines anderen Herdes, was wohl etwas besser zu behandeln wäre – wenn ich das richtig verstanden habe. Mir rauschen da manchmal meine ohnehin sehr schwachen Ohren.
Klarheit darüber soll ein CT bringen, das jetzt auf morgen Vormittag angesetzt wird. Vom Ergebnis hängt dann ab, ob mich die Neurochirurgen bekommen oder eine andere Zunft. Ich hoffe, dass ich morgen Nachmittag über das verlängerte Wochenende nach Hause kann.
Mein IPad zeigt 18.10 Uhr an. Das zeitige Abendessen liegt schon hinter mir. Ich habe noch ein wenig in der LVZ gelesen, die mir das Krankenhaus auf den Tisch gelegt hat:
Einen schrecklichen Bericht aus dem Osten der Ukraine.
RB Leipzig erreicht das Achtelfinale in der Champions League.
Das Verhältnis zwischen Deuschland und Frankreich ist angespannt.
Am Nachmittag rief mich eine 85-jährige Frau an, eine der Teilweisen, aus Lindenau, die jetzt in das Pflegewohnheim in der Demmeringstraße umzieht und ihre Sachen mit viel Mühe mit einer Art Fahrrad nach und nach aus der alten Wohnung nachholt.
A. wird jetzt bald mit der Gruppe Kunst und Kultur der Teilweisen fertig sein. Der letzte Abend mit ihrem Enkel aus Berlin und der Abend vor dem Tag der Mitteilung.
Draußen ist es schon dunkel.
Ich habe gerade mit einiger Mühe einen „großen Ausflug“ auf meine Zimmertoilette gemacht.
Outlook zeigt mir an, dass in 15 Minuten der Lesekreis in unserer Buchhandlung in der Holbeinstraße beginnt. Ich wollte dabeisein, wenn der Marianengraben, ein bewegendes Buch über das Sterben besprochen wird.
Die FreundeApp zeigt mir, dass A. wieder zu Hause ist.
Was werden sie und ihr Enkel an ihrem letzten gemeinsamen Abend noch machen?
Morgen wird sie es erfahren. Ich spüre dabei, wie mir das Herz schwer wird und dass ich noch lang nicht durch den Schmerz und die Trauer hindurch bin.
Das Leben beginnt ohne mich weiterzugehen.
Und wieder stellt sich die Frage, wie ich mit dieser gänzlich neuen Erfahrung umgehen kann. Das häufige Switchen zwischen dem, was die Anderen gerade tun, und meiner eigenen Situation scheint ein schmerzhafter Teil des persönlichen Sterbens zu sein.
Ich notiere mir erste Erkenntnisse:
Wenn ich mich mit dem Sterben als meinem Projekt beschäftige, scheint es für mich leichter zu werden, als wenn ich mich diesem Erleben und Fühlen hingebe, dass das Leben ohne mich weiterzugehen beginnt.
Das scheint mir eine wichtige Beobachtung zu sein, die ich gern weiterverfolgen möchte.
Ich schreibe über mein Sterben.
Mir schwebt ein Blog vor, den ich tagebuchartig führe und der den Titel haben könnte: „Ich lerne sterben.“
Doch dabei gilt es die Balance zu wahren. Es soll keinesfalls eine einsame, nur um mich selbst kreisende und damit unerlöste Selbstbeschäftigung werden. Nein ich will nahe bei den Menschen sein, vor allem bei meinen Lieben, zuerst bei A. und bei meinen Kindern, bei den Freunden und auch bei denen, die mir über die Gemeinde nahe gekommen sind. Und auch bei denen, die mir auf dieser Etappe noch neu begegnen bzw. „geschickt werden“.
Oft sagt man, ein plötzlicher schneller Tod das Beste sei.
Ich glaube das nicht, obwohl es so trostlose Situationen geben mag, wo das doch zutrifft. Doch ansonsten scheint mir das Sterben als geschenkte und bewusst gelebte Zeit des Abschiednehmens die bessere Alternative zu sein, wenn das Leben und vor allem die es tragenden Beziehungen noch einmal hell aufleuchten und ihre einmalige Kostbarkeit sichtbar werden kann, und wenn dann in den Herzen derer, die zurückbleiben, ein tiefer, warmer und lang andauernder Nachklang entsteht. Wenn das möglich wird, dann ist man gut vorbereitet.
Dann hat man nicht umsonst gelebt.
Dann lebt etwas von uns weiter.
Von meiner Mutter konnte ich vor 22 Jahren so Abschied nehmen, teilweise gemeinsam mit meinen damals noch recht jungen Kindern. Und dafür bin und bleibe ich immer sehr dankbar.
Jetzt beende ich den zweiten Tag an meinem neuen Projekt. Wieder kehrt die Dankbarkeit in mein Herz zurück.
Morgen kommt wahrscheinlich der Tag, an dem ich A. einbeziehen werde. Hoffentlich kann es ein gemeinsames Projekt werden! Das wünsche ich mir sehr.