1 – Mittwoch 26.10.22 – In der Neurologie in Altscherbitz –

Gerade bin ich in Altscherbitz in der Neurologie angekommen. Empfangen wurde ich mit einem Rollstuhl, in dem ich nun sitzen darf, nach meinem mühsamen Herumtapsen. Ich bin froh, dass ich nun behandelt werde, nachdem sich mein Befinden, dass mit einem Kribbeln und einer Lähmung im rechten Bein begonnen hat zunehmend verschlechtert hat. Ich habe angefangen, mich auf Hilfe, Linderung und Heilung zu freuen, habe humorvolle Textnachrichten verschickt und auf typisch heinzsche Art gewitzelt.

Dr. Heuschkel, der junge Arzt, hat mich funktionsdiagnostisch untersucht.

Und dann gegen 14.00 Uhr bin ich zum MRT gefahren worden. Nach dem ersten Durchgang von etwa 15 Minuten wurde mir ein Kontrastmittel gespritzt und ein zweiter, kürzerer Durchgang angeschlossen. Ich habe nichts geahnt. Doch dann kam nach 15.00 Uhr die Oberärztin Böhme in mein Zimmer und sagte mir, dass ich einen Tumor im Kopf habe. Es ist noch vieles ungeklärt. Die Diagnostik soll an der Uniklinik in Leipzig fortgesetzt werden.

Der Blick aus dem Fenster

Das ändert nun wirklich alles. Das muss ich erst einmal an mich ranlassen.

Inzwischen ist es Abend geworden. Ach, beinahe jedes Wort bekommt jetzt eine neue, ins Sterben getauchte Bedeutung. Ich spüre immer stärker die Bedeutung der Diagnose „Tumor“, zumal in Verbindung mit der so schnellen Verschlechterung meines Zustandes. Dadurch wird mir die abstrakte Wahrheit zu einer erlebten Wahrheit und erschreckenden Erfahrung.

Bisher war das Sterben für mich ein Thema, das nicht so richtig ins Leben zu passen schien. Jetzt scheint es für mich zu dem letzten großen Thema zu werden. Und zu einem Thema, das viele Seiten und Facetten hat. Den Schock und das Erschrecken lerne ich gerade kennen. Plötzlich ist alles für mich anders. Meine Lebenszeit ist nicht mehr nur abstrakt, sie ist real begrenzt. Mir bleiben vielleicht nur noch ein paar Monate, vielleicht etwas mehr mit Chemotherapie. Aber was für Wochen oder Monate? Was sind die nächsten Ausfälle? Und wie werde ich sie erleben und verkraften?

Schon jetzt, wenige Stunden nach der Diagnose merke ich, worauf es sehr wahrscheinlich ganz entscheidend ankommen wird: Ich könnte mich in mein Bett und in Angst und Trauer verkriechen, in der Vorstellung versinken, dass es wohl nie wieder so sein wird, wie es noch vor vierzehn Tagen in unserem Schwarzwaldurlaub ganz selbstverständlich erschien. Ich kann die Trauer meiner mir nächsten und liebsten Menschen vorwegnehmen und dabei vor allem die Bitterkeit spüren, dass ich sie der Diagnose zufolge mit einiger Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit verlassen werde. Schon die Vorstellung ist eine grauenvolle Inszenierung des Todes…

Ich kann aber auch versuchen, anders, selbstbestimmter und ja: hoffnungsvoller mit der Diagnose umzugehen. Einige Zeit nachdem die sehr mitfühlende Stationsärztin gegangen war, kam zur Zeit des frühen Abendessens auch Herr Heuschkel noch einmal vorbei und setzte sich kurz zu mir. Das hat mir sehr gut getan und ich spürte die ersten Tränen aufsteigen. Und dann kam in mir der Satz zum Leben: Was jetzt noch bleibt, ist Gutes zu tun.

Ja! Ich kann mein Sterben nicht verhindern und wahrscheinlich auch nicht wesentlich hinausschieben. Wahrscheinlich stellt sich früher oder später dann auch die Frage, um welchen Preis. Aber ich kann mit meinem Sterben so umgehen, dass ich ihm ein möglichst hohes Maß an Leben abgewinne.

Was heißt das? Für mich heißt das nicht, noch möglichst viel an Genüssen des Lebens mitzunehmen. Das würde mich nicht wirklich trösten, sondern sehr wahrscheinlich das Bewusstsein der Vergänglichkeit all dessen schärfen und den Kummer verstärken. Für mich heißt das, noch einmal und entschiedener als je zuvor Gutes zu tun.

Das mag jetzt idealistisch klingen wie viele gute Vorsätze am Ende eines alten Jahres. Dazu kommt die Gefahr der Selbstberauschung, die nach allen menschlichen Erfahrungen nur allzu schnell in einem Kater endet. Gibt es nicht noch einen besseren und – modern gesprochen – nachhaltigeren Weg? Vor allem dann, wenn es der letzte und endgültige Weg ist?

Gutes tun und Güte leben – das ist für mich ein Weg, auf dem ich ahne und hoffe, der Überwindung des Lebens durch den Tod etwas von der Überwindung des Todes durch das Leben entgegensetzen zu können. Ein Weg, auf dem wir unter Tränen lachen und Kummer und Gram durch Freude überwinden können.

Dieser Weg, wenn es ihn gibt und ich ihn finden und gehen sollte, führt aber nicht an den dunklen Gedanken und Erfahrungen vorbei, sondern durch sie hindurch. Deshalb will und muss ich mich ihnen stellen. Ich schreibe deshalb hier auch eine Chronik meines – möglicherweise – zunehmenden Verfalls und meines Sterbens. Eine Chronik meiner letzten Wahrheiten und Erfahrungen, wobei ich hoffe, dass es auf diesem auch zu neuen Erfahrungen mit der Güte des Lebens kommt.

Doch für heute ist genug notiert und verarbeitet , wenn dieses anspruchsvolle Wort hier schon passt.

Am Ende dieses für mein Leben so bedeutungsvollen und möglicherweise entscheidenden Tages, des 26.10.2022, bin ich nicht mehr traurig, sondern inspiriert. Vielleicht trete ich jetzt ins Endspiel, in die letzte und entscheidende Phase meines Lebens ein. Allein dieser Stimmungswandel nach der Schocknachricht ist schon für sich genommen bemerkenswert.

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