Vorwort: Ich lerne sterben

Wenn ich sterbe
Komme ich
Unter die Erde
Doch noch bin ich hier
Und ihr könnt mich mal
Vorläufig noch
In Euer Leben einplanen
Und noch etwas
Von mir erwarten
Aber dann
Wenn ich unter die Erde komme
Dann schaue ich
Von ganz ganz oben
Auf euch herab
Voller Liebe

„Ich lerne sterben“ –

Das muss für die meisten heute befremdlich klingen. Ich hätte es wohl noch vor vier Wochen auch so empfunden und dabei vielleicht sogar erst einmal im Stillen gedacht: Will hier jemand mit so einem ungewöhnlichen social-media- Beitrag um jeden Preis Aufmerksamkeit erringen?
Das Sterben wird normalerweise nicht gern thematisiert, wenn es nicht unumgänglich geworden ist. Und wenn doch, dann ist es schwer darüber zu sprechen, weil wir das Unfassbare möglichst schnell „in den Griff bekommen“ wollen. Dafür gibt es heute Ablenkungsangebote und Umgehungssmöglichkeiten unterschiedlichster Art.

Als Christenmensch will ich mich aber nicht vom Sterben ablenken lassen und Umgehungsmöglichkeiten suchen, sondern bewusst wahrnehmen, was in dieser letzten Lebensphase mit mir geschieht und nach dem Weg durch das Sterben hindurch fragen.
Unsere großen Traditionen vornehmlich in der Bibel und im christlichen Liedgut sind voller Bilder und Impulse, die zu einer intensiven Erkundung dieses Feldes einladen.

„Ich lerne sterben.“
In diesem kurzen Satz ist jedes Wort wichtig.

ICH
Was ich hier im Folgenden sage und schreibe, ist etwas ganz Persönliches. Kein Beweis und kein missionarischer Aktivismus, sondern ein privater Erkundungsgang, zu dem ich seit wenigen Tagen durch mein eigenes Krankheitserleben veranlasst, ja ich möchte sagen: eingeladen worden bin.

LERNE
Dabei mache ich neue Erfahrungen, die ich in dieser Weise bisher noch nicht gemacht habe. Meine Gefühle, meine Gedanken und auch meine Begegnungen mit anderen Menschen verändern sich. In welcher Weise? Eben davon will ich hier erzählen und einladen darüber zu sprechen. Es handelt sich also um einen offenen Lernprozess, der m.E. aus vielen Gründen heute nötig ist und hilfreich sein könnte

STERBEN
Ja, darum geht es! Nicht um den Tod und seine wie auch immer geartete abstrakte Einordnung in eine bestimmte Sicht des Lebens. Es geht um den letzten Weg und die Erfahrungen, die ich dabei machen kann. Natürlich hängen diese mit meinem bisherigen Leben und meinen Grundorientierungen zusammen. Sterben ist ein sehr persönliches Geschehen und Erleben. Auch das verstärkt die Scheu und die Schwierigkeit, darüber offen zu sprechen.
Und doch glaube ich, dass es auf diesem Weg viel zu entdecken und zu gewinnen gibt, wenn wir es wagen in offener, persönlicher und demütiger Weise darüber zu reden.

Worum geht es also in den folgenden Beiträgen?‘
Ich will hier von mir erzählen.
Ich schreibe als Patient der Neurochirurgie.
Ich führe ein offenes Krankentagebuch, das von den Ereignissen meines Erlebens diktiert wird.
Ich nehme mir keine große Zeit zum Überarbeiten und Korrekturlesen – weil ich nicht weiß, ob ich sie habe.
(Einige fehlende Kommas habe ich „schon gesehen“. Aber die Schule des Lebens folgt ihren eigenen Regeln.)

Das war eine Art programmatisches Vorwort am sechsten Tag nach einer unerwarteten Diagnose, von der und dem, was danach folgt, ich nun fortlaufend berichten will . . .

Ein Kommentar zu „Vorwort: Ich lerne sterben

  1. „Ich lerne sterben“- welch‘ großer Mut steckt dahinter und welch‘ starke Intention, einer breiten Leserschaft und Hörerschaft dies aus einer persönlichen Notlage heraus mitzuteilen. Lernbedarf besteht auf alle Fälle. Die meisten von uns sind darin auf Hilfsschulniveau. Dazu zähle ich mich als Arzt auch. In meinem Beruf starben ja immer die Anderen. Das Sterben steht uns allen jedoch todsicher bevor. “ Der Tod ist die Prüfung, die jeder besteht“. Es fragt sich nur, wie man sie besteht.
    Ich erhoffe spannende Antworten auf meine stets verdrängten Fragen. Zuallerallererst wünsche ich Dir lieber H. Gesundung und Heilung trotz Deiner jetzigen Nahtoderfahrung. Herzlichst Dein Adrian

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