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Liebe Gemeinde, heute feiern wir wieder Gottesdienst.
In einer Welt voller Krieg, Ungerechtigkeit und fortschreitender Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen feiern wir Gottesdienst.
In einer Zeit voller wirtschaftlicher Sorgen und sozialer Spannungen feiern wir Gottesdienst.
In einer Gesellschaft, in der die Angst vor der Zukunft zunimmt und nicht selten in zerstörerische Wut umschlägt, feiern wir Gottesdienst.
Umgeben von Menschen, die nach Rat und Hilfe und neue Antworten auf die aktuellen Fragen des Lebens suchen, feiern wir Gottesdienst.
Warum tun wir das?
Kann der Gottesdienst eine Antwort auf diese Fragen und Bedrängnisse geben oder sogar selbst die Antwort sein?Vielen wird eine solche Behauptung völlig weltfremd und vielleicht sogar absurd erscheinen.
Wie geht es Ihnen damit?
Als Gottesdienstbesucher haben wir sicherlich einige positive Erwartungen an den Gottesdienst, sonst wären wir ja nicht hier. Aber spüren wir deshalb nicht um so mehr die Spannung zwischen dem, was wir hier in dieser Stunde erwarten, und dem, was die ganze Woche über draußen in der Welt geschieht? Diese Spannung wirft Fragen auf:
Was geschieht eigentlich mit uns, wenn wir Gottesdienst feiern?
Worum geht es da in Bezug auf die Wirklichkeit unseres Lebens?
Vor dem Hintergrund dieser Fragen begegnet uns heute der Leit- und Wochenspruch des 14. Sonntags nach Trinitatis: Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. (Psalm 103, 2)
Das ist nicht irgendein alter Bibelvers.
Artur Weiser, ein Alttestamentler, der sich intensiv mit den Psalmen beschäftigt und ein Kommentarwerk über die Psalmen geschrieben hat, sagt über dieses über Wort: Der Psalm ist eine der reinsten Blüten am Baume des christlichen Glaubens.
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!
So für sich genommen und am Sonntag feierlich vorgetragen oder auch gemeinsam in Liedform gesungen, klingt das ziemlich erhebend und gut.
Da kann Dankbarkeit und Glück, Vertrauen und Zufriedenheit, die Erfahrung von tiefer Gewissheit und tragender Geborgenheit anklingen. Und wer dabei eine innere Resonanz in seinem Herzen verspürt, für den kann dieses Wort wie eine Erhebung der Seele sein: Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!
Aber – und dieses Aber kommt jetzt so sicher wie am Schluss das Amen – ist dieses Wort auch alltags- und praxistauglich? Und kann man daraus so etwas wie einen therapeutischen Grundsatz für das christliche Verhalten machen? Nun lobe gefälligst Gott und vergiss nicht, was er dir doch alles geschenkt hat? Du musst einfach dankbar sein!
Die meisten spüren wohl ziemlich deutlich: Das funktioniert so nicht. Das hat noch nie funktioniert. Schon in biblischen Zeiten nicht.
Lukas erzählt uns dazu eine Geschichte. Es ist das Evangelium für diesen Sonntag, das wir in diesem Zusammenhang vielleicht noch einmal ganz neu hören und verstehen können:
Evangelium: Lukas17,11-19 – Die zehn Aussätzigen
Es begab sich, als Jesus nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.
Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.
Auf der einen Seite das große Angebot Gottes, die heilsame und heilende Zuwendung Jesu und auf der anderen die Undankbarkeit und Verschlossenheit der Menschen, die doch eigentlich davon profitieren!
Da ist sie wieder, diese Spannung, die untrennbar mit dem Gottesdienst und dem Jesusglauben verbunden zu sein scheint. Warum ist das so?
Bevor wir nach einer Antwort auf diese Frage suchen, lasst uns erst einmal unser eigenes Herz öffnen.
Lasst uns Gott anrufen und klagen, was uns ratlos macht und unseren Glauben beschwert.
Und lasst uns zu ihm aufschauen und Anteil an seinem Frieden und Wohlgefallen suchen.
Herr, wir leben in großen Spannungen und fühlen uns darin oft ratlos und ohnmächtig.
Wir rufen zu dir: Kyrie eleison
Christus, du bist als Licht und Heil in diese Welt gekommen, um uns den Frieden Gottes nahezubringen.
Wir rufen zu dir: Christe eleison!
Gott, heiliger Geist, erfülle uns mit deiner Kraft, dass wir deine Herrlichkeit auf Erden erfahren und weitergeben können.
Wir rufen zu dir: Kyrie eleison!
Ohne dich sind wir wie ein geknicktes Rohr und wie ein glimmender Docht. Aber du willst, dass wir nicht zerbrechen und unser Licht nicht ausgelöscht wird.
Zu dir beten wir. Du bist unsere Hoffnung. Wir singen dir einen Lobgesang und erheben Herz und Seele in deine Höhe: Ehre sei Gott in der Höhe.
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Kehren wir jetzt – von der Begegnung mit Gott – zu unserer Frage zurück:
Warum geht das so oft schief mit dem Gotteslob und der Dankbarkeit, die Herz und Seele erhebt? Warum ist nur einer von zehn umgekehrt, um Gott die Ehre zu geben?
Die Geschichte von den zehn Aussätzigen lässt diese Frage offen. Und sie gibt uns damit Raum und Anregung, hier unsere eigenen Lebenserfahrungen einzubringen. Wir können dabei auch an Jesu Gleichnis vom großen Abendmahl (Mt 22,1-10 par. Luk 14,15-24) denken: Die dort geladenen Gäste haben gerade andere wirtschaftliche und private Dinge im Kopf, die sie ganz in Beschlag nehmen. Deshalb folgen sie der Einladung nicht.
Das wird bei den Aussätzigen nicht anders sein. Als hochinfektiöse Risikopersonen, waren sie nicht nur körperlich krank, sondern sozial völlig isoliert und aus ihren früheren persönlichen und beruflichen Beziehungen und Bindungen aus-gesetzt. Jetzt sind sie zwar geheilt worden, aber wie geht es nun weiter?
Ist die alte Arbeitsstelle nicht längst neu vergeben?
Hat sich der frühere Lebenspartner inzwischen nicht schon nach jemand anderem umgesehen?
Wer hat denn überhaupt noch mit so einem hoffnungslosen Fall gerechnet?
Die Zeit ist ja nicht stehengeblieben.
Und inzwischen scheint die ganze früher mühsam aufgebaute Existenz ruiniert zu sein?
Und da soll man noch dankbar sein?
Heilung – schön und gut. Freiheit – schön und gut. Die Wende – schön und gut. Aber wenn es dann so kommt?
Wir kennen diese Erfahrung aus den Jahren in und nach der Wendezeit. Und wir kennen auch das Wort: Und da soll man noch dankbar sein?
Es klingt wie der Protest gegen eine Zumutung.
Eine Zumutung – bleiben wir noch etwas bei diesem eigenartigen Wort: eine Zu-Mutung.
Das führt uns zu der Frage: Was ist eigentlich Mut?
Im Kern doch wohl so etwas wie eine positive Lebensenergie – eine persönliche Mischung aus Hoffnung, Festigkeit des Herzens und Tatkraft.
Und das haben wir nicht immer frei zur Verfügung. Wenn uns das Leben zu sehr mitspielt, dann sinkt der Mut und kann auch ganz verloren gehen. Dann brauchen wir neue Kraft von außen – eine Er-Mutigung. Das fängt schon bei kleinen Kindern an, die auf dem schwierigen Weg ins Leben immer wieder neu ermutigt werden müssen. Und das zieht sich durch das ganze Leben hindurch. Ohne neue Er-Mutigungen bleiben Menschen früher oder später auf der Strecke.
Aber – wieder so ein Aber – wenn die Spannungen und Widersprüche des Lebens zu groß und zu tief sind, dann kann es sein, dass die Er-Mutigungen nicht mehr unser Herz und unsere Seele erreichen. Dann erscheinen sie als Zu-Mutung im negativen Sinne: Was willst du?! Was soll ich?! Dankbar sein? Wofür denn?!
Es geschieht immer wieder, dass sich unter uns Menschen eine solche Stimmung breit macht.
In gesellschaftlichen Krisenzeiten kann sich das sogar zu einer Art geistiger Pandemie ausweiten, in der sich viele gegenseitig infizieren. Wo das geschieht, geraten wir unter das Joch und in die Knechtschaft und Abhängigkeit der Mutlosigkeit.
Gibt es da ein Gegenmittel? Gibt es so etwas wie einen spirituellen Impfstoff?
Hören wir auf dem Hintergrund dieser Frage jetzt die Epistel für diesen Sonntag aus Römer 8,14-17:
Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.
Lassen wir dieses Wort jetzt mit dem Wochenlied EG 333,1-2.5 in uns nachklingen.
3
Danket dem Herrn! Lobet den Herrn! Betet ihn an!
Ja, das ist eine Zu-Mutung. Eine Zu-Mutung im besten Sinne dieses Wortes.
Indem wir uns auf diese Weise von uns selbst und unseren gedrückten Stimmungen weg und auf Gott hin bewegen, kann etwas sehr Entscheidendes in uns geschehen. Es kann mit Gottes Kraft und Hilfe zu einer Umkehr unseres Herzens und unserer Seele kommen. Wo vorher nur Zumutung war, kann Ermutigung werden.
Ich denke jetzt an eine Frau, die vor zehn Tagen im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Vor mehr als 70 Jahren wurde ihr eine ungeheure Verantwortung auf die Schultern gelegt. Sie kannte wie alle anderen auch wechselnde Stimmungen, die uns beeinflussen und unser Leben be-stimmen wollen. Aber sie lebte aus etwas noch Größerem: Sie hatte eine innere Bestimmung, die ihr Festigkeit verlieh. So konnte sie für viele Menschen zu einer Ermutigung werden.
Diese Fähigkeit, wechselnde persönliche Stimmungen einer höheren Bestimmung unterzuordnen, ist uns nicht von Natur aus zu eigen.
Für die Frau, von der ich gerade rede, kam und erwuchs diese Fähigkeit aus dem Glauben an Gott. Sie hat ihre Lebensaufgabe darin gesehen, als eine würdige und überzeugende Repräsentantin dieser Bestimmung zu dienen.
Das war oft nicht leicht und niemals frei von Spannungen. Aber sie ist darin auch gewachsen und hat am Ende zu einer heiteren und manchmal auch humorvollen Gelassenheit im Umgang mit den Unvollkommenheiten und Widersprüchen des Lebens gefunden.
So hat sie in den Augen vieler Menschen eine außergewöhnliche Größe erreicht und ist dabei doch ganz bescheiden aufgetreten.
Die Trauer um sie ist groß, weil sie vielen als Orientierung und zur Ermutigung diente. Vielen, die in diesen Tagen ihre Worte in sich nachklingen lassen: We will meet again, Queen Elizabeth.
Uns mag solch eine Verehrung eines einzelnen Menschen im allgemeinen befremdlich erscheinen. Manche werden sich deshalb auch besonders auf die Widersprüchlichkeiten stürzen.
Ich möchte es dagegen zum Anlass nehmen, eine wichtige Lebensfrage hervorzuheben. Die Frage: Wie leben wir und wem folgen wir? Den wechselnden Stimmungen der Zeit, die uns zunehmend als eine Zumutung erscheint?
Oder einer höheren Bestimmung, die uns ermutigt und zu einer Ermutigung für andere werden lässt?
Amen.