Rogate – Beten lernen

  1. Beten – die besondere Verbindung zwischen Gott und Mensch

Vor 421 Jahren wurde ein Leipziger Theologieprofessor und Pfarrer an der Nikolaikirche wegen theologischer Auseinandersetzungen für ein halbes Jahr beurlaubt. Die Reformation lag erst wenige Jahrzehnte zurück und die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges stand noch bevor. Theologische Auseinandersetzungen waren in dieser Zeit keine Seltenheit. Es wurde um Fragen von großer Tragweite gerungen. Am rechten Verständnis des christlichen Glaubens hingen schließlich das menschliche Seelenheil und auch die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens.

Der beurlaubte Theologe hieß Cornelius Becker und hatte sich während seiner unfreiwilligen Auszeit eine außergewöhnliche Aufgabe vorgenommen. Er beschäftigte sich mit dem Psalter, dem Gebetbuch der Bibel, und übertrug alle 150 Psalmen in deutsche Verse. “Auff die in Lutherischen Kirchen gewöhnliche Melodeyen zugerichtet“, stand auf dem Werk, das 1602 unter dem Titel „Der Psalter Davids Gesangsweis“ erschien und der Kurfürstin Sophie von Sachsen gewidmet war.  

Heinrich Schütz (1585-1672), dessen 350. Todestag wir am 6. November begehen, hat den sogenannten Becker-Psalter erstmals 1628 vertont. 1661 veröffentlichte er dann die endgültige Fassung.

Mit dem Lied “Wohl denen, die da wandeln“ (EG295) bearbeitete Cornelius Becker Psalm 119, den längsten der 150 Psalmen. In unserer Bibel besteht dieser Psalm aus 176 Versen. Cornelius Becker dichtete daraus 88 (!) Liedstrophen, von denen vier unter Nr. 295 in unser EG gekommen sind.

Worum geht es dabei? Sie handeln von der besonderen Verbindung, die zwischen Gott und den Menschen besteht, und zeigen sehr klar auf, worin diese Verbindung besteht. Es ist eine Wort-Verbindung.
Gottes richtet sein Wort an uns Menschen. Dieses Wort wirkt in uns Menschen und bringt uns mit Gott in eine Verbindung, die unserem Leben einen Halt und einen Sinn gibt, wenn wir darauf antworten.

Schauen wir uns das noch einmal in den Strophen 2 und 3 an und sprechen sie gemeinsam als Psalmgebet:
2.Von Herzensgrund ich spreche: / Dir sei Dank allezeit, / weil du mich lehrst die Rechte / deiner Gerechtigkeit. / Die Gnad auch ferner mir gewähr, / ich will dein Rechte halten, / verlass mich nimmermehr.
3. Mein Herz hängt treu und feste / an dem, was dein Wort lehrt. / Herr, tu bei mir das Beste, / sonst ich zuschanden werd. / Wenn du mich leitest, treuer Gott, / so kann ich richtig laufen / den Weg deiner Gebot.

Das sind Gebetsworte, die zugleich auch einen Einblick geben, wie Gebete nach dem Verständnis der Bibel gestaltet werden und wirken.
Im Mittelpunkt stehen dabei nicht unsere menschlichen Wünsche, die Gott bitte schön möglichst bald erfüllen soll. Im Mittelpunkt steht Gottes Wort, das in uns wirksam werden will und uns dabei mehr gibt, als wir überhaupt von uns aus erwarten.
Das ist der Dreh- und Angelpunkt und der entscheidende Unterschied zwischen einem selbstbezogenen Beten, in dem der Mensch vor allem um sich selbst und seine eigenen Wünsche kreist,    und dem biblischen Beten, in dem wir uns auf Gott und sein Wort beziehen. Man kann diesen Unterschied auch mit der Wende vergleichen, die nach Nikolaus Kopernikus benannt ist. Die Sonne kreist nicht um uns und unsere Erde – auch wenn es zunächst so aussieht. Wir kreisen um die Sonne.
Die astronomischen Zusammenhänge kennt heute jedes Kind.
Beim rechten Verständnis in unserem Verhältnis zu Gott, haben wir noch großen Lern- und Nachholebedarf.

2. Die Ermahnung zum Beten (Epistel 1Tim2,1-6)

So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle als Zeugnis zur rechten Zeit.

Die Bibel ermahnt uns zum Beten. Ermahnungen hören wir nicht besonders gern.   Wenn wir ihnen jedoch offen begegnen, können wir darin zwei Anliegen entdecken: Wenn uns jemand ermahnt, dann will er oder sie uns etwas sagen, dass seiner oder ihrer Meinung nach erstens wichtig ist und zweitens nötig ist.

Nun kommt es natürlich sehr darauf an, wer da spricht. Wir werden nicht jedem Wichtigtuer folgen wollen. Bei der Bibel sollten wir aber zumindest einmal genauer hinhören und nachfragen, wenn sie uns mahnt.

Also – erstens – warum soll das Beten so wichtig sein? 
Auf diese Frage möchte ich jetzt eine ganz moderne Antwort wagen.
Ich möchte mit einem Vergleich aus der Computertechnologie antworten und sagen: Das Gebet ist das Betriebssystem des biblisch-christlichen Glaubens. Wer einen PC oder ein Notebook besitzt, weiß: wenn das Betriebssystem nicht richtig funktioniert, dann ist das ganze Gerät zu nichts nütze. Und wenn es nicht in Ordnung gebracht wird, ist es praktisch nicht viel mehr als ein Haufen Schrott.

So ähnlich denken heute auch manche über den Glauben: Alles Schnee von gestern, alles Schrott. Bestenfalls noch was für‘s Museum.
Sie haben dabei kaum im Blick, dass es sich auch um eine Störung ihres Betriebssystems handeln könnte. Vielleicht fehlt etwas zum richtigen Verständnis? Vielleicht ist der Glaube auch von einem Virus befallen worden.  Z.B. von dem Ego-Virus, der dazu führt, dass sich alles nur um das eigene Ich dreht, statt um Gott und sein Wort. Wenn das der Fall ist, bleibt der Mensch auf seinen Wünschen sitzen und mit seinen Ängsten allein.

Und das ist auch schon die Antwort auf die Frage, warum die Mahnung zum Beten so nötig ist. Unser Beten ist störungsanfällig. Das Ego mit seinen Ängsten und Wünschen schiebt sich immer wieder zwischen uns und Gott und verursacht damit eine Gottesfinsternis, die leider nicht wie eine Sonnenfinsternis nach kurzer Zeit von allein vorübergeht. Das Betriebssystem unseres Glaubens repariert sich nicht selbst. Da braucht es Hilfe. Diese Hilfe kann durch eine liebevolle Mahnung von außen kommen.
Es kann aber auch – wie z.B. bei Paulus oder Luther – die innere Einsicht wachsen, dass uns etwas fehlt oder in uns etwas schiefläuft. Dann können wir wie die Jünger bitten: “Herr, lehre uns beten!“   

  1. Wie Jesus beten  (Evangelium Luk11,1-14)

Und es begab sich, dass er an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. 
Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Gib uns unser täglich Brot Tag für Tag und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird. Und führe uns nicht in Versuchung.
Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.

„Herr, lehre uns beten!“ Es ist doch bemerkenswert und aufschlussreich, dass diese Bitte aus dem Mund eines Jüngers kommt. Die Jünger mussten es doch wissen. Sie waren doch schon eine ganze Zeit mit Jesus zusammen. Und überhaupt: Das Beten gehörte doch damals zum täglichen Leben. Warum also sagen sie dann: Herr, lehre uns beten?

Ich bleibe bei dem Bild von dem störungsanfälligen Betriebssystem: Weil unser Beten immer wieder ein update braucht. Weil es erneuert und wieder zum Laufen gebracht werden muss, wenn es abgestürzt ist. Weil der blockierende Einfluss des eigenen Ichs überwunden werden muss.
Aber geht das überhaupt? Sind wir da nicht in einem ständigen Zwiespalt, weil wir doch immer an unser persönliches Ich gebunden sind?
Paulus hat das so formuliert: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal2,20).

Es geht beim Beten darum, Gottes Wort — sein in Jesus Christus menschgewordenes Wort —  in uns wirken zu lassen. Und deshalb antwortet Jesus auf die Bitte des Jüngers Herr, lehre uns beten! auch mit dem Vaterunser.

Wir haben in Lukas 11 eine kürzere Form des Vaterunsers. Es sind hier nur fünf Bitten. In der Bergpredigt in Matthäus 6 steht die uns geläufige Version mit den sieben Bitten.
Die Bergpredigt fast die wesentlichen Elemente von Jesu Verkündigung und Lehre zusammen. Hier bei Lukas geht es um eine konkrete Einzelsituation, wo der Lebenszusammenhang im Vordergrund steht.
Oder um noch einmal ein Bild zu gebrauchen: In der Bergpredigt erläutert Jesus die ganze Straßenverkehrsordnung. Hier bei Lukas steht er mit den Jüngern an einer Kreuzung, wo es um die Vorfahrtsregel geht.

Das Wesentliche ist aber in beiden Versionen des Vaterunsers bei Matthäus und bei Lukas gleich:
Am Anfang stehen die Bitten um Gottes Wirken und Kommen. Das ist die Hauptstraße. Und in diese Hauptstraße münden auch die vielen Seitenstraßen ein, die unser persönliches Leben betreffen. Es ist wichtig, dass beide Straßenarten miteinander verbunden sind.
Wäre das nicht so, dann würde die Hauptstraße an unserem Leben vorbeiführen und uns überhaupt gar nicht berühren. Dann bliebe uns Gott fremd, und wir würden wie manche sagen, was geht mich denn dieser Glaube überhaupt an?
Und die Nebenstraßen wären ohne Verbindung zur Hauptstraße ein Labyrinth von Sackgassen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Das ist das Problem und die Tragik derer, die unaufhörlich nur um sich selber kreisen und dabei weder froh werden, noch jemals zur Ruhe kommen können.

Wir sehen: Beim Beten geht es um ungestörte, gesunde Verbindungen zwischen Gott, dem Schöpfer, der auch der Sinngeber und Heiler unseres Lebens ist,   und unseren persönlichem Ich, das immer wieder von Ängsten, von Illusionen und von lebensbedrohlichen Bestrebungen befreit und geheilt werden muss.
Ein solches Beten soll nach Jesu Wort beherzt und „un-verschämt“ sein, also ohne falsche Scham, wie das unter Freunden möglich ist.  Ein solches Beten ist zugleich die beste Medizin, weil es Gottes heilsames Wort in unser Leben hineinbringt und wie ein Entgiftungsmittel das aus uns herausführt, was uns kränkt und unglücklich macht.

Herr, lehre uns beten!“ Diese Bitte und die Antwort Jesu enthalten noch eine weitere gute Nachricht: Beten ist lernbar.
Es ist nicht sowie bei einem bestimmten Talent, dass man eben hat oder nicht hat. Wir können beten lernen. Und das ist sogar eine unserer ersten und wichtigsten Aufgaben als Christen. Denn wenn das Betriebssystem unseres Glaubens nicht richtig läuft, dann kommt es zu Störungen und Ausfällen in unserem Christsein. Deshalb ist die Kirche auch und vor allem eine Lerngemeinschaft der Betenden.

Dazu helfe uns Gott, Amen!

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