1
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich alle, die ihr sie lieb habt. Siehe ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom. (Jes 66,10.12)
Dieser Vers aus Jes 66 ist dem Psalm dieses Sonntags als Leitvers (Antiphon) zugeordnet und hat diesem Tag seinen Namen und Inhalt verliehen: Lätare – freuet euch.
Freuet euch? Mitten in der Passionszeit? Mitten im Ukrainekrieg?
Ja, geht‘s noch?! Diese Frage liegt jetzt förmlich in der Luft. Da werden ganze Städte in Schutt und Asche gebombt. Viele Tausende von Menschen sterben. Millionen Frauen und Kinder sind auf der Flucht. Und wir sagen Lätare und singen von der Freude. Sind wir eigentlich noch bei Trost?
Persönlich, aus uns selbst heraus, reagieren wir wahrscheinlich ganz anders: Erschrocken. Und betroffen. Oft fehlen uns einfach die Worte. Aber hier in der Kirche, jetzt im gemeinsamen Gottesdienst, da heißt es: Lätare! Da wird von der Freude gesprochen und gesungen. Wie passt denn das zusammen?
So ist es ja oft: Die überlieferten Inhalte unseres Glaubens und die Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen und immer wieder machen müssen, scheinen sich auf den ersten Blick oft nicht harmonisch zusammenzufügen. Im Gegenteil! Da entstehen manchmal große Spannungen. Da tun sich immer wieder Risse auf. Risse, die auch uns, wenn wir mit dem Herzen dabei sind, hin und her reißen können.
Die entscheidende Frage ist nun, wie die Glaubenswahrheit und die Erfahrungswirklichkeit aufeinander einwirken? Macht die Erfahrung den Glauben platt — wie eine schwere Betonplatte, die auf ein Blumenbeet fällt?
Oder verändert der Glauben die Erfahrungswirklichkeit — wie ein kräftiger Regen, der auf ausgetrocknetes, verdorrtes Land fällt?
Dabei wird die Frage, ob wir noch bei Trost sind, auf eine überraschende Weise die entscheidende Rolle spielen.
Trost ist eines der Schlüsselworte des christlichen Glaubens. Es hängt sprachlich sehr eng mit treu und mit Vertrauen zusammen. Trost ist das, was uns treu und fest macht und unser Vertrauen in Gott und das Leben stärkt.
Unter dieser Fragestellung muss die Bibel gelesen werden.
Von entscheidender Bedeutung ist nicht, ob sich die Vorstellungen und Bilder der Bibel mit unserem Weltbild decken. Die sind natürlich immer zeitbezogen und da hat sich in 2000 Jahren sehr viel verändert. Von entscheidender Bedeutung ist, ob wir in der Bibel Worte finden, die uns Trost, und das heißt innere Stärke, Gottvertrauen und Lebenskraft, vermitteln.
Achten wir einmal darauf, wenn wir den Psalm dieses Sonntags betrachten!
Psalm 84
Wie lieb sind mir deine Wohnungen, HERR Zebaoth!
Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des HERRN; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott.
Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – deine Altäre, HERR Zebaoth, mein König und mein Gott.
Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; die loben dich immerdar.
Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln!
Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen.
Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion.
HERR, Gott Zebaoth, höre mein Gebet; vernimm es, Gott Jakobs!.
Gott, unser Schild, schaue doch; sieh doch an das Antlitz deines Gesalbten!
Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend.
Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause als wohnen in der Gottlosen Hütten.
Denn Gott der HERR ist Sonne und Schild; der HERR gibt Gnade und Ehre.
Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.
HERR Zebaoth, wohl dem Menschen, der sich auf dich verlässt!
Und dazu kommen die Worte des Evangeliums aus Johannes 12,20-24:
Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest.
Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen’s Jesus.
Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Nehmen wir als heutiges Bekenntnis des Glaubens noch ein Lied dazu, das Gerhard Schöne geschrieben hat:
Jesu, meine Freude
Meines Herzens Weide
Jesu, wahrer Gott
Wer will dich schon hören?
Deine Worte stören
Den gewohnten Trott
Du gefährdest Sicherheit
Du bist Sand im Weltgetriebe
Du, mit Deiner Liebe
Du warst eingemauert
Du hast überdauert
Lager, Bann und Haft
Bist nicht totzukriegen;
Niemand kann besiegen
Deiner Liebe Kraft
Wer dich foltert und erschlägt
Hofft auf deinen Tod vergebens
Samenkorn des Lebens
Jesus, Freund der Armen
Groß ist dein Erbarmen
Mit der kranken Welt
Herrscher gehen unter
Träume werden munter
Die dein Wort erhellt
Und wenn ich ganz unten bin
Weiß ich dich an meiner Seite
Jesu, meine Freude
2
Wir haben jetzt die Worte des 84. Psalms gebetet. Wir haben das Evangelium vom Weizenkorn gehört. Und wir haben das Glaubensbekenntnis, das uns Gerhard Schöne geschenkt hat, miteinander gesungen.
Alle diese Worte sind doch nicht nur Schall und Rauch. Es sind Worte des Glaubens, die auf uns einwirken. Es sind Kraftworte, die uns aus dem Dunkel der Angst und Verzweiflung herausziehen können. Es sind Trostworte, die große seelische Energien freisetzen können, die bewirken können, dass wir bei Trost sind.
Die Kraft des Glaubens, die auch im Leiden noch die liebende Nähe Gottes wahrnimmt und dadurch Festigkeit und Freude gewinnt, ist keine Kraft, die wir in uns selbst besitzen. Es ist die Kraft, die aus solchen Worten in uns einfließt.
Wir müssen aufpassen, dass wir den Glauben nicht in falscher Weise romantisieren und verklären. Lätare heißt nicht: Es ist doch alles nicht so schlimm … Nein: Es ist schlimm!
Und das muss auch so gesagt und beim Namen genannt werden. Es ist schlimm, aber es muss nicht ohne Sinn und Wirkung bleiben. Das verdeutlicht Jesus in seinem Wort vom Weizenkorn, das uns als Spruch durch die neue Woche begleiten soll: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. (Joh 12,24)
Wenn wir vom Leid überwältigt und von Angst erfüllt sind, neigen wir allerdings dazu, das sofort wieder anzuzweifeln: Gibt es nicht auch sehr, sehr viel sinnloses Leid, dass keine Frucht bringt, sondern tiefe Wunden reißt, die nie wieder heilen? Wunden aus denen Bitterkeit, Härte und Hass erwachsen, die neues Leid verursachen?
Die Antwort kann nur sein: Ja, das gibt es leider. Und es scheint eher die Regel als die Ausnahme zu sein.
Aber eins ist ebenso klar: Das ist ganz und gar nicht Gottes Wille. Und wer dafür ist, dass sein Wille geschehe, der fragt nach der Möglichkeit und der Kraft, mit der Gottes Wille Wirklichkeit werden kann.
Und hier kommt das Trösten ins Spiel, von dem wir jetzt in der Epistel des Sonntags Lätare hören. Paulus beginnt seinen zweiten Brief an die Korinther mit einem Lobpreis Gottes, in dem er die große Bedeutung des Tröstens hervorhebt.
2Kor1,3-7:
Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Barmherzigkeit und Gott allen Trostes,
der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit wir auch trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.
Denn wie die Leiden Christi reichlich über uns kommen, so werden wir auch reichlich getröstet durch Christus.
Werden wir aber bedrängt, so geschieht es euch zu Trost und Heil; werden wir getröstet, so geschieht es euch zum Trost, der sich wirksam erweist, wenn ihr mit Geduld dieselben Leiden ertragt, die auch wir leiden.
Und unsre Hoffnung steht fest für euch, weil wir wissen: Wie ihr an den Leiden teilhabt, so habt ihr auch am Trost teil.
3
Lätare – Freuet euch! Mitten im Leiden? Möglich wird das durch Trösten.
Wenn aber an diesem Trösten so viel hängt, wenn dieses Trösten so eine große Kraft und Bedeutung besitzt, dann ist es wichtig, dass wir auch gut und richtig verstehen, was damit gemeint ist.
In unserer Zeit hat das Wort trösten oft einen eher beschwichtigenden und resignierenden Beiklang. Besser wäre es doch, das Übel und das Leid an der Wurzel zu bekämpfen und zu beseitigen.
Vielleicht haben wir dabei auch noch den Satz von Karl Marx aus dem Jahr 1845 im Hinterkopf:
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern
(11. These über Feuerbach).
Inzwischen haben wir oft genug gesehen, wie gerade die radikalen (d.h. an der Wurzel ansetzenden) Weltveränderer zu Verursachern neuen Leids werden können.
Ich möchte hier nicht missverstanden werden: Ich will damit nicht sagen, dass alles beim Alten bleiben soll.
Es geht mir um die Wahrheit und Weisheit, die in dem bekannten Gelassenheitsgebet zum Ausdruck kommt, von dem es mehrere Versionen gibt:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Beim Trösten rückt zunächst der erste Teil dieses Gebets in den Vordergrund:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge anzunehmen, die ich nicht ändern kann.
Diese Gelassenheit darf nicht mit der Apathie, der alles egal geworden ist, verwechselt werden. Es geht auch hier um etwas Aktives: Um ein Ertragen, um ein Tragen-Können dessen, was auf mir lastet.
Dabei hilft es überhaupt nicht, wenn mir jemand meine Last kleinredet. Im Gegenteil: Das macht die Last eher noch schwerer.
Hilfreich dagegen ist, wenn mich jemand versteht. Wenn es jemand neben und mit mir aushält. Und wenn aus dem Verstehen dann ein Beistehen wird.
Und damit sind wir beim Kern des Begriffs von Trost und Trösten.
Im griechischen Urtext des Neuen Testaments steht dafür ein Wort, dass sich am besten mit Beistand und Beistehen übersetzen lässt. Jemand, den wir herbeirufen können, wie einen ad-vocatus, der uns vertritt, der Böses und Schaden von uns abwendet, der uns durch einen leidvollen Prozess hindurchführt. Und der nicht zuletzt auch darauf achtet, dass wir es nicht selbst noch schlimmer machen, weil uns in Leid und Angst oft auch die Weisheit abhanden kommt.
So etwa geht trösten. Es ist ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient, weil es ein Grundanliegen des christlichen Glaubens ist und weil diese Welt echten Trost braucht, damit sie nicht im Leid untergeht.