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Dieser Gottesdienst am 27.02.22 ist nicht nur vom Kreislauf des Kirchenjahres, sondern noch stärker als sonst auch vom Geschehen in der Welt geprägt.
Wir sind nach einem Wort unserer Außenministerin am 24. Februar in einer anderen Welt aufgewacht. Was wir kaum für möglich gehalten haben, ist Wirklichkeit geworden. Russische Truppen sind in die Ukraine eingedrungen. Eintausend Kilometer von uns entfernt herrscht Krieg. Wir sehen die Bilder ganz nah auf unseren Geräten. Die Einschläge, die Menschen, den Wahnsinn und das Leid. Ganz nah.
Eine andere Welt? Ein Aufwachen? Bedeutet das auch ein Umdenken? Wohin?
Neue Härte? Glaubhafte Abschreckung? – Worte, die uns fremd geworden sind und jetzt alternativlos zu sein scheinen. Worte, die uns Angst machen.
Ja, wir fühlen uns ohnmächtig. Wir suchen nach Halt, am heutigen Sonntag Estomihi. Sei mir – das ist die Übersetzung von Estomihi – sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!
Wir suchen Zuflucht und Trost bei Gott. Der noch derselbe ist, seit Jesu Geburt. Gott als Mensch bei den Menschen.
Wir suchen Zuflucht bei ihm – doch nicht um unsere Angst zu betäuben, sondern um sie zu teilen. Um die Angst der Menschen zu teilen, die jetzt um ihr Leben fürchten müssen. Um der Angst eine Stimme zu geben und unser Herz zu öffnen. Wir bitten um den Mut und die Weisheit des Glaubens, der zwischen wahrem und falschem Frieden unterscheiden kann. Wir bitten um wahren Frieden im Angesicht von Krieg, Propaganda und Lüge.
Wir singen das Lied 430 Gib Frieden, Herr, gib Frieden
Psalm 31 (EG 716)
Herr, auf dich traue ich, lass mich nimmermehr zuschanden werden,
errette mich durch deine Gerechtigkeit! Neige deine Ohren zu mir, hilf mir eilends!
Sei mir ein starker Fels und eine Burg, dass du mir helfest!
Denn du bist mein Fels und meine Burg,
und um deines Namens willen wollest du mich leiten und führen.
Du wollest mich aus dem Netze ziehen, das sie mir heimlich stellten;
denn du bist meine Stärke. In deine Hände befehle ich meinen Geist;
du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott. Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte,
dass du mein Elend ansiehst und nimmst dich meiner an in Not
und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes;
du stellst meine Füße auf weiten Raum.
Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott!
Meine Zeit steht in deinen Händen.
Errette mich von der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen.
Lass leuchten dein Antlitz über deinem Knecht; hilf mir durch deine Güte!
Not und Angst, aber auch Vertrauen und Hoffnung. Was im Leben so oft auseinanderfällt, findet hier zusammen.
Und es ist eine ganz wesentliche Aufgabe unserer Gottesdienste, beides immer wieder neu zusammenzubringen:
Das Kyrie, mit dem wir Gott aus unserer Angst und Not heraus, anrufen und um Beistand bitten.
Und das Ehre sei Gott in der Höhe, durch das wir uns mit ihm und seinem Frieden zusammenschließen.
Ach, Gott, es ist Krieg.
Menschen sterben. So viele leben in Schrecken und Angst.
Wir rufen zu dir, denn du schaffst Leben: Kyrie eleison!
Ach, Gott, es ist Krieg.
Lügen und Hass breiten sich aus. So wird neue Gewalt gesät.
Wir rufen zu dir, den du bringst Wahrheit und Versöhnung: Christe eleison!
Ach, Gott, es ist Krieg.
Wir sind unsicher und ratlos. Uns fehlt der Geist, der Heil und Frieden schafft.
Wir rufen zu dir, denn du bist dieser heilende Geist: Kyrie eleison!
Du bist uns ein starker Fels und nimmst dich der Menschen an in ihrer Not.
Darum hoffen wir auf dich und ehren dich, unseren Gott: Ehre sei Gott in der Höhe!
2
Wir kommen wieder zu Friedensgebeten und Friedensgottesdiensten zusammen. In diesen Tagen werden überall in unserem Land noch viele folgen. Friedensgottesdienste sind im Angesicht von Krieg und Gewalt ein starkes emotionales Bedürfnis: Sei mir – bitte ganz besonders jetzt – ein starker Fels! Deshalb sind Friedensgebete und Friedensgottesdienste meistens auch stark besucht.
Da drängt sich eine Frage auf: Wozu dienen Friedensgottesdienste eigentlich?
Dienen sie vielleicht in erster Linie zu unserer eigenen Selbstberuhigung, wie manche Kritiker meinen. Oder heizen sie sogar die Stimmung an und verschärfen die Spannungen, wie wieder andere kritisch einwenden mögen.
Auf welche Weise dienen Friedensgottesdienste dem Frieden?
Die Frage mag pietätlos und verstörend klingen. Ja, sie hat so eine verstörende Schärfe, aber gerade das kann eine klärende und heilsame Schärfe sein. Wenn unser Leben von Schrecken befallen wird und in dichte Bedrängnisse gerät, sind unsere Gedanken und Impulse selten klar und eindeutig. Dann sind sie oft sehr gewunden. Dann sind wir dem äußeren Streit und den vielen Deutungen und Missdeutungen ausgesetzt. Aber auch den Ängsten, die aus unserem eigenen Inneren kommen.
Deshalb ist die Frage nach der Bedeutung und Wirkung unserer Friedensgebete und unserer Suche nach dem starken Fels wichtig. Der Kern dieser Frage richtet sich auf unseren Umgang mit der Not und mit dem Leiden.
Und da gibt es eine enge Berührung mit dem Evangelium dieses Sei-mir-ein-starker-Fels-Sonntages aus
Markus 8,31-38:
Jesus fing an, seine Jünger zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.
Hier haben wir die tiefste Antwort auf die Frage, wie Gott für uns zu einem starken Fels werden kann – die Antwort, die Jesus gibt. Sie unterscheidet sich sehr deutlich von unseren menschlichen Antworten. Und das klingt nun wirklich erst einmal verstörend. Wir möchten Leid vermeiden. Wir möchten unser Leben erhalten.
Damit stehen wir doch ganz auf der Seite, die Petrus in dieser Erzählung einnimmt. Wir hoffen auf einen Gott, der mit Macht einschreitet, auf den starken Felsengott, der dem Leiden und Sterben ein Ende macht. Meinen wir nicht in erster Linie das, wenn wir für den Frieden beten.
Und Jesus? Jesus weist Petrus zurück. Jesus im Evangelium sagt sinngemäß:
Wenn es euch nur um euch selbst geht, wenn ihr nur um eure eigene Angst kreist, wenn ihr nur an eure persönliche Sicherheit denkt, dann werdet ihr nicht finden, was ihr sucht. Dann werdet ihr alles verlieren. Dann werdet ihr gründlich enttäuscht werden, auch von eurem Felsengott, an den ihr euch so gerne klammert.
Jesus sagt: Werdet frei davon! Frei von der vorrangigen Sorge um das eigene Leben. Nehmt euer Kreuz, nehmt euer Leiden auf euch und folgt mir nach.
Dann und darin werdet ihr den starken Felsen finden, der euch trägt und erhält.
Wollen wir das? Können wir das?
Ist es das, was jetzt den jungen Männern in der Ukraine gesagt werden muss, die nicht mit ihren Frauen und Kindern ins Ausland fliehen sollen? Wäre es nicht sehr anmaßend und lieblos, wenn ich darauf eine zweifelsfreie Antwort zu geben versuchte? Aber die Fragen will ich wenigstens gestellt haben.
Fragen, die Zeit zur Besinnung erfordern. Fragen die wir mit in unser Gebet nehmen können. Und das soll mit dem Eingeständnis beginnen: Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr (EG 382).
3
Wenn unser Glaube sich am Leben und an den Worten Jesu orientiert und wenn dieser Glaube auf die volle Härte der menschlichen Lebenswirklichkeit trifft, dann geraten wir an unsere Grenzen.
Was können wir tun, wenn es so scheint, dass wir nichts mehr tun können?
Ich weiß keine andere Antwort als fragen und bitten. Mit offenem Herzen fragen und bitten. Fragen, was der Glauben wirklich vermag. Und bitten, dass seine Kraft auch bei, in und durch uns wirksam wird.
Das aber ist ein Geschehen von Gott her. Von dem Gott, der vor allem durch sein Wort und seinen Geist bei, in und durch uns wirkt.
Hören wir deshalb noch ein Gotteswort für diesen Sei-mir-ein-starker-Fels-Sonntag.
Ein Wort, das uns auf das Wesentlichste und Wichtigste des christlichen Glaubens hinweist. Ein Wort das zwischen dem vielen, was auch dazugehört, und dem einen, ohne das alles nichts und nichtig wäre, unterscheidet. Hören wir die Epistel aus 1.Kor13,1-13:
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen
Wir kennen es alle, dieses Hohelied der Liebe, das wir Paulus verdanken. Paulus, der selbst mit Gott und dem Glauben gerungen hat. Paulus, der mit sich selbst sehr hart ins Gericht gegangen ist, und dann bei Gott die Freiheit gefunden hat. Nicht die äußere Freiheit, die immer auch mit Unsicherheit verbunden ist. Sondern die innere Freiheit, die Gott denen schenkt, die sich ganz auf ihn verlassen. Die Freiheit, in der nicht mehr die Angst regiert, sondern die Liebe, die aus Gottes Herzen kommt.
Es ist ein langer Weg zu dieser Freiheit und Liebe. Ein Weg voller Zweifel und Hindernisse, voller Angst um das eigene Überleben. Ein Weg, der mit persönlichen und gesellschaftlichen Rückschlägen gepflastert ist. Ein Weg, den wir nicht aus eigener Kraft zurücklegen können.
Vielleicht aber doch, wenn wir mit leeren, verstörten Herzen kommen und aufstehen, um sie von Gott mit Glauben und Hoffnung füllen zu lassen.
Vielleicht aber doch, wenn wir uns dann über Gräben hinweg neu die Hände reichen.
Vielleicht ändern wir uns, wenn alles aufhört, woran wir uns so hängen und die Liebe Gottes in unseren Herzen aufgeht. Als die schöpferische Lebenskraft, die nicht Mein und Dein trennt und nicht zwischen uns und den anderen Gräben zieht. Die Kraft, die wärmt und heilt und verbindet. Die Liebe, die bleiben wird und ohne die auf Dauer nichts werden und bleiben kann.
Lasst uns im unseren Friedensgebeten um die Kraft dieser Liebe bitten, für die Menschen in der Ukraine und in Russland und auch für uns selbst.
Amen