Neben den wohlvertrauten Bildern, die im Neuen Testament für die Gemeinde und Kirche Jesu Christi zu finden sind, scheint der Begriff von “Kirche als Lerngemeinschaft“ erst einmal ziemlich abstrakt und wenig aussagekräftig zu sein. Lässt sich dieser Gedanke überhaupt in der Bibel finden? Welche Wirkung ist damit verbunden? Und welche Bedeutung kann er für unsere Gegenwart und Zukunft haben?
Um diese drei Fragen soll es im Folgenden gehen.
1. Die Begründung in der Bibel
Es ist nicht nur die eine Stelle aus Matthäus 11,29, wo Jesus dazu aufruft, von ihm zu lernen: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ Dieses Lernen wird fast auf jeder Seite der Evangelien sichtbar – nämlich dort, wo die Menschen auftauchen, die Jesus begleiten.
Wir bezeichnen sie als die Jünger Jesu. Im griechischen Urtext aber wird für sie dasselbe Wort wie für „lernen“ verwendet. Die genaueste und treffendste Übersetzung ist deshalb “Lernende“.
Das mag überraschend klingen, aber noch bedeutsamer ist, was damit über das Lernen gesagt wird. Wir denken beim Lernen meistens zuerst an Lernstoff oder bestimmte Fertigkeiten, die wir einstudieren und trainieren müssen, um dann zu wissen und zu können, worum es geht.
Aber worum geht es in der Lerngemeinschaft Jesu? Was sollen die lernen, die Jesus nachfolgen wollen? Genau das: Jesus nachfolgen! Das ist weit mehr als ein fest definierbares und zertifizierbares Wissen oder Können. Das ist eine neue Art zu leben.
Dazu hat Jesus von Anfang an aufgerufen und eingeladen: „Die von Gott bestimmte Zeit ist da. Sein Reich kommt jetzt den Menschen nahe. Ändert euer Leben und glaubt dieser guten Nachricht. (Markus 1,15 BasisBibel). Dieses neue Leben ist nicht mehr von Angst und Zweifel beherrscht, sondern von Vertrauen und Liebe erfüllt. Und damit ändert sich das menschliche Denken und Handeln.
So etwas lernt man nicht von heute auf morgen. Dafür sind die Menschen in der Lerngemeinschaft Jesu durch Höhen und Tiefen gegangen und haben bald “Kyrie eleison!“ (Herr, erbarme dich!) geschrieen, bald „Halleluja!“ (Gelobt sei Gott!) gerufen.
Am wichtigsten aber war und ist dabei die tragende Beziehung zu dem menschgewordenen Gott, der zu Weihnachten selbst neu und klein angefangen hat. Das ist wirklich eine völlige Umkehrung dessen, was bisher gedacht und geglaubt wurde. Auch für die Lerngemeinschaft Jesu war diese Wende Gottes von der Selbstherrlichkeit zur Hingabe erst einmal schwer zu verstehen. Und dazu sein Wort: „Wer sein Leben erhalten will, der wird‘s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird‘s finden“ (Matthäus 16,25).
Als Jesus diesen Weg selbst bis ans Kreuz ging, kamen auch für seine lernbereiten Nachfolger die Angst und der Zweifel zurück. Alles, was mit Jesus so hoffnungsvoll begonnen hatte, schien vorbei und vergeblich zu gewesen zu sein.
Doch dann kam die zweite Umkehrung: Sie machten zu Ostern eine neue, zunächst bestürzende, dann aber befreiende Erfahrung mit ihrem Lehrer und Meister. Sie sahen und erkannten in ihm den Weg, die Wahrheit und das Leben (Johannes 14,6) und trugen diese einladende Erkenntnis in alle Welt. So wurden sie zu einer Minderheit mit Zukunft.
2. Die Bewährung in der DDR
Zur DDR-Zeit konnte es manchmal scheinen, dass die Geschichte der Kirche nun auf ihr Ende zuging. In der staatlich vorgegebenen „wissenschaftlichen Weltanschauung“ hatte der christliche Glaube keine Zukunft mehr. An seine Stelle sollte ein Humanismus treten, dessen Grundprinzipien von der allein führenden Partei bestimmt wurden.
Damit entstand ein Konfliktfeld zwischen Staat und Kirche, in dem besonders um den Einfluss auf die Jugend gerungen wurde. Die Frage: “Konfirmation oder Jugendweihe?“ wurde für viele christliche Familien zu einer bedrängenden Entscheidungsfrage, bei der die Zukunft ihrer Kinder auf dem Spiel stand. Der Druck des Weltanschauungsstaates zeigte Wirkung: Die Zahl der Konfirmanden nahm ab. Die der Kirchenaustritte nahm zu. Das Ende der bis dahin real existierenden Volkskirche war gekommen.
War es das Ende oder ein neuer Anfang? Die zweite Synode des 1969 gegründeten Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR wählte für ihre 2. Tagung im September 1974 das Thema „Kirche als Gemeinschaft von Lernenden“. Daraus entstand die Formel und das Leitbild von der „Kirche als Lerngemeinschaft“.
Worum ging es bei diesem Lernen? Es war ein anderes Lernen als das von den engen staatlichen Vorgaben diktierte Anpassungs-Lernen, das die Menschen zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ formen und erziehen sollte. Im Gegensatz dazu wurde ein geschwisterliches Lernen im Geist der Freiheit und in der Nachfolge Jesu und der von ihm begründeten Lerngemeinschaft praktiziert.
Auch hier kam es zu einer Umkehr – der Umkehr von der Angst vor Verlust und Auflösung zu einer Erneuerung im Sinne von „Vertrauen wagen!“ und Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.
Es war ein langer Weg des Lernens, der mit Gemeindeseminaren begann, die in vielen evangelischen Kirchen und Gemeinden der DDR auf unterschiedlichen Ebenen gestaltet wurde. Dabei kamen Menschen zusammen, die miteinander offene Gespräche über ihre Erfahrungen und Ängste führten, einander zuhörten und gemeinsam nach der Hoffnung und dem Weg des christlichen Glaubens fragten.
Als der Ökumenische Rat der Kirchen 1983 auf seiner Vollversammlung in Vancouver zu einem “Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ aufrief, wurde das im Bereich des BEK auf breiter Ebene mit Leben erfüllt. Bereits 1980 entstanden die jährlich im November durchgeführten Friedensdekaden, bei denen Kerzen gegen die Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit angezündet und das Prophetenwort „Schwerter zu Pflugscharen“ (Micha 4,3 und Jesaja 2,4) in die gesellschaftliche Öffentlichkeit getragen wurden. Einfach war das nicht! Der Konflikt mit dem SED-Regime führte zu vielen Auseinandersetzungen, in denen die Macht auf der einen Seite, auf der anderen aber Vertrauen, Mut und Hoffnung standen.
Rückblickend lässt sich sagen: Die Kirche in DDR hat als Lerngemeinschaft Prozesse angestoßen und gefördert, die wenige Jahre später (wieder) zu einer Wende führten. Sie war zu einer Minderheit mit Zukunft geworden.
3. Die Bedeutung für Gegenwart und Zukunft
Was ist heute aus dieser Kirche als Lerngemeinschaft geworden?
Hat sie sich in die Luft der Freiheit nahezu unbegrenzter Möglichkeiten aufgelöst?
Oder beschäftigt sie sich hauptsächlich mit sich selbst, wie ihr manche vorwerfen?
Alles hat (und braucht) seine Zeit. Aber in der Nachfolge Jesu ist der Kirche als Lerngemeinschaft ein Weg gewiesen, den sie immer wieder neu zu entdecken und zu beschreiten hat: Sie hat sein anfängliches Wort: “Die von Gott bestimmte Zeit ist da. Sein Reich kommt jetzt den Menschen nahe. Ändert euer Leben und glaubt dieser guten Nachricht.“ (Markus 1,15) in unsere Gegenwart hineinzusprechen und hineinzuleben.
Ein Hauptkennzeichen unserer Zeit ist die ständige Belastung durch Krisen, die durch die „Echokammern“ der schier allgegenwärtigen Medien mit ungeheurer Wucht auf unser Bewusstsein zurückgeworfen werden und zu einem starken Anschwellen von Angst und Verunsicherung beitragen. Das führt zu einer Vielzahl destruktiver Reaktionen, was die von den massiven Störungen der Gerechtigkeit, des Friedens und der Integrität der Schöpfung verursachten Krisen weiter verstärkt. Resignation und Empörung, Verschwörungstheorien und Querdenkertum, wachsende Spaltungen in der Gesellschaft und die Zunahme von Hass und Gewaltaktionen sind die Folge. Vernunft und Wahrheit verlieren an Einfluss, wenn Ängste und mediale Macht im Ringen um Gehör und Aufmerksamkeit größeres Gewicht als das Recht und der freie Austausch von Argumenten bekommen.
„Dystopien“ und Untergangsszenarien breiten sich aus und zerfressen die Hoffnung, so dass diese in den Augen vieler naiv und lächerlich erscheint. Doch damit nehmen auch Bitterkeit und Zynismus unter den Menschen zu. Wir reden nicht so gern darüber. Vielleicht fürchten wir, dann auch selbst damit infiziert zu werden.
Das alles ist nicht neu und wird von einsichtigen Mahnern, die man früher „Propheten“ nannte, auch immer wieder vorgebracht. Doch was können diese ausrichten? Es braucht Menschen, die vor Ort überzeugend vorleben, dass Ängste und Zweifel nicht das letzte Wort haben müssen. Menschen, die vor Ort dem Ungeist entgegentreten und trotz ihrer eigenen Fragen und Unsicherheiten heilen, verbinden und zu einem Leben aus Vertrauen, Hoffnung und Liebe ermutigen können. Wer anders kann das sein als die, die Jesus “das Salz der Erde“ und “das Licht der Welt“ genannt hat (Matthäus 5,13-16)?
Damit steht die Kirche als Lerngemeinschaft vor neuen Herausforderungen:
Wird sie Wege und Lernformen finden, in offenen Gemeinschaften
- die heute wichtigen Fragen zu stellen,
- nach lebendigen Antworten zu suchen,
- die dabei zu erwartenden Konflikte zu verarbeiten
- und segensreich für die Erneuerung des Lebens zu wirken?
Wird sie sich wieder als Minderheit mit Zukunft erweisen?