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Unser Verständnis von Krankheit und Heilung ist eng an die Fortschritte der modernen Medizin geknüpft. Wenn wir krank sind, gehen wir zum Arzt oder zur Ärztin. Gott sei Dank, dass wir diese Möglichkeit haben. Wir hoffen auf ein Mittel, das uns eine schnelle Besserung und Heilung bringt.
Es kann aber auch passieren, dass die Ärztin oder der Arzt die Stirn runzelt, uns über den Brillenrand in die Augen schaut und unangenehme Fragen stellt. Dann geht es manchmal um tiefere Zusammenhänge, die unsere Lebensweise betreffen. Oder um Persönliches, das uns belastet und wovon wir nicht so gern und so leicht sprechen.
Naja, sagen wir dann vielleicht. Das ist nicht so einfach…
Nein, das ist es oft nicht, wenn es ans Eingemachte geht. Aber wenn es dann erst einmal raus ist, dann kann es doch eine große Erleichterung sein.
Das haben viele schon erlebt, heutzutage wie auch schon in alten Zeiten.
In der Bibel klingt das so wie in unserem heutigen Psalm 32:
Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind,
dem die Sünde bedeckt ist!
Wohl dem Menschen, dem der Herr die Schuld nicht zurechnet,
in dessen Geist kein Trug ist!
Denn als ich es wollte verschweigen,
verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen.
Denn deine Hand lag Tag und Nacht schwer auf mir,
dass mein Saft vertrocknete, wie es im Sommer dürre wird.
Darum bekannte ich dir meine Sünde,
und meine Schuld verhehlte ich nicht.
Ich sprach: Ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen.
Es ist nicht leicht, offen über solche Fragen und Probleme zu sprechen.
Das geht nicht mit jedem und in aller Öffentlichkeit schon gar. nicht.
Dafür braucht es Vertrauen und die Hoffnung, dass das Unerhörte nicht länger unerhört bleiben muss.
Eine solche verständnisvolle Vertrauensperson will Gott für uns sein. Deshalb ruft der Beter des Psalms ihn an.
Und genau das tun wir auch heute noch: Kyrie eleison
Das Unerhörte bleibt bei Gott nicht unerhört. Das ist eine Erfahrung des Glaubens, von der der Psalm dann auch berichtet. Wir lesen weiter:
Da vergabst du mir die Schuld meiner Sünde.
Deshalb werden alle Heiligen zu dir beten zur Zeit der Angst;
darum, wenn große Wasserfluten kommen,
werden sie nicht an sie gelangen.
Du bist mein Schirm, du wirst mich vor Angst behüten,
dass ich errettet gar fröhlich rühmen kann.
Freuet euch des Herrn und seid fröhlich, ihr Gerechten,
und jauchzet, alle ihr Frommen.
Was mit Angst und Klage beginnt, kann sich in Erleichterung und Freude verwandeln. Was für eine Erlösung! Da öffnet sich das Herz. Da fängt der Mensch zu singen und zu danken an. Gottlob: Ehre sei Gott in der Höhe
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Echte Heilung ist eine Erlösung und Befreiung.
Manchmal sagen wir: Ich war ja nicht mehr ich selbst, als ich unter der Krankheit litt. Ich war ja wie gelähmt.
Gleich am Anfang, im 2. Kapitel des Markusevangeliums, finden wir dazu eine merkwürdige Geschichte, bei der es – vielleicht nicht zufällig – um einen Gelähmten geht.
Markus 2,1-12:
Jesus ging nach Kapernaum, und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.
Auch diese Krankheit endet gottlob mit einer Heilung und mündet in ein Loben Gottes. Aber sie zeigt uns auch noch einmal, dass das nicht immer ganz so leicht ist – und keine einfache Routine, bei der es heißt: Der Nächste bitte!
Schon die äußere Szene ist unerhört! An Jesus, den Heiler, kommt man ja gar nicht so leicht heran. Da sind menschliche Mauern dazwischen. Hat das vielleicht auch eine tiefere, eine sinnbildliche Bedeutung? Versperren wir uns womöglich manchmal gegenseitig den Zugang zu Gott? — Das wäre mal ein eigenes Thema!
In der Erzählung jedenfalls müssen die Helfer des Kranken erst einen neuen Zugang suchen. Und was für einen! Sie decken dafür das Bretterdach ab und lassen den Kranken von oben zu Jesus herunter. Da ist sogar Jesus beeindruckt: Das ist ein Glauben! — Auch das wäre ein Thema für sich!
Aber dann wird es kompliziert und auch unangenehm. Jesus behandelt nicht, wie erwartet die Krankheit, sondern den Kranken und sagt als erstes: Deine Sünden sind dir vergeben. Das löst innere Empörung aus. Die anwesenden Schriftgelehrten sahen darin eine Gotteslästerung: Wie kann der einfach so etwas sagen? Das kann doch nur Gott allein!
Wir wären vielleicht aus einem anderen Grund auch empört gewesen:
Wie kann Jesus hier, wo ein Kranker vor ihm liegt, von Sünden sprechen?
Klingt das nicht wie eine zusätzliche Demütigung? Ist das nicht sogar äußerst peinlich und lieblos, wenn ein notleidender und hilfesuchender Mensch nun auch noch auf seine Sünden angesprochen wird? Wird der Kranke damit nicht noch mehr gekränkt?
Dieser Eindruck lässt sich nicht so leicht beiseiteschieben. Er kommt daher, dass wir “Sünde“ in erster Linie als etwas Unmoralisches verstehen. Sünde und Schande. Meistens sehen wir das von der Seite. Und deshalb empört es uns natürlich, wenn jemand einen Zusammenhang von Krankheit und Sünde herstellen will. Was bildet der sich denn da ein?! Was für eine Unverschämtheit! Wenn es um Krankheit und Heilung geht, brauchen wir gute Ärzte und Krankenhäuser und keine Moralapostel!
Aber warum blickt uns dann gerade ein guter Arzt manchmal so eindringlich in die Augen?
Es gehört zu dem besonders Heimtückischen der Sünde, das sie so oft moralistisch missverstanden wird.
Im tieferen Verständnis der Bibel ist sie vor allem eine Verstrickung, eine Fessel, die den Menschen unfrei macht und – lähmt. Das hängt einem dann an wie ein schweres Erbe, das man nicht loswird. Eine Erbsünde! So kann man dieses belastete Wort auch verstehen.
Die Fesselung und Lähmung sitzt dann ganz tief – auch im Herzen und in den Gedanken: Das hat sowieso alles keinen Zweck! Ist doch alles sinnlos. Mir kann keiner mehr helfen! Wozu das ganze Gerede! Und dann auch noch Gott! Wo ist er denn?? Lasst mich bloss in Ruhe!
Sind uns solche Gedanken völlig fremd?
Heile du mich, HERR, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen.
Es braucht einen, der uns in solchen Verstrickungen versteht und aus solchen Lähmungen herausholt!
Einen, der zur rechten Zeit das richtige Wort für uns findet. Das befreiende Wort, das uns mit neuem Zutrauen in unser Leben erfüllt. Das liebevolle Wort, das unser Herz öffnet. Dir sind deine Sünden vergeben. Du kannst jetzt neu anfangen. Komm, ich reich dir die Hand und helfe dir auf.
So geht Sündenvergebung. Leicht ist das nicht, aber eine Möglichkeit und Chance des Glaubens. Das macht die ärztliche Heilkunst nicht überflüssig, sondern verstärkt ihre Wirkung. Hüten wir uns davor, hier einen Gegensatz zwischen göttlichem und menschlichem Handeln zu konstruieren. Das widerspricht ganz und gar dem Wesen Gottes, der in Jesus selbst Mensch geworden ist.
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Wir sollen nicht verloren werden, heißt es in einem Lied, aber wir verlieren uns immer wieder und verstricken uns in Unheil. Im Kleinen wie im Großen.
Es ist gut, wenn wir uns das immer bewusst machen und dabei auch die Möglichkeit der Heilung nicht vergessen.
Hören wir abschließend, wie es einem Spitzenpolitiker erging und was er freimütig darüber berichtete. Hören wir, was Hiskia, der letzte König von Israel, gegen Ende des 8. Jh. v.Chr. in Worte fasste. Es steht im Buch Jesaja 38,9-20:
Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war:
Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre.
Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt.
Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden.
Tag und Nacht gibst du mich preis; bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis.
Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube.
Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!
Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele.
Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben.
Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe;
denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.
Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht,
und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue;
sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute.
Der Vater macht den Kindern deine Treue kund.
Der Herr hat mir geholfen; darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn!