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Eine Woche vor der Bundestagswahl sind überall Wahlplakate zu sehen. Oft stehen noch ein paar Schlagworte dabei, die uns mitteilen, was die Parteien und ihre Kandidaten anbieten. Dabei überbieten sich manche geradezu. Sie bemühen sich, bei den Wählerinnen und Wählern die Hoffnung zu wecken, dass das Leben mit ihnen lebenswert bleibt oder möglichst noch lebenswerter wird, während man mit den anderen einiges befürchten müsse.
Das ist alles nicht neu. Im Gegenteil! Solche Wettbewerbe um möglichst breite Zustimmung gibt es schon seit langem überall dort, wo Menschen zwischen verschiedenen Angeboten wählen können.
Auch die Religionen werben seit alter Zeit um Zustimmung und verbreiten zu diesem Zweck ihre Parolen.
Einer der größten christlichen Wahlwerber war Paulus. Am heutigen Sonntag lesen wir seine Losung aus 2Tim1,10b:
Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.
Stellen wir uns das jetzt mal auf einem Wahlplakat vor.
Größer und vollmundiger geht es ja wohl nicht mehr. Paulus hat mit dieser Behauptung weitgehend Erfolg gehabt. Andernfalls kämen wir hier und heute wohl nicht als Kirche zusammen.
Aber in unserer Zeit ist die Bereitschaft, solchen Botschaften zu folgen, bei den meisten Menschen stark gesunken. Zu vieles ist schon versprochen worden. Wir sind misstrauisch geworden. Und wenn uns der Satz nicht schon so vertraut wäre, weil er ja seit fast 2000 Jahren in der Bibel steht, wenn also heute irgendjemand etwas derartiges zum ersten Mal behauptete, dann würden wir wohl sehr befremdet oder auch belustigt die Achseln zucken und vielleicht dazu noch sagen: Naja, wer‘s glaubt, wird selig!
Genauso reagieren andere uns gegenüber. Viele Menschen halten die großen Erzählungen und Verheißungen des christlichen Glaubens für realitätsfremde Mythen und für inhaltsleere Versprechungen und Vertröstungen.
Für sie ist das nur religiöse Propaganda, mit der Menschen geködert werden sollen.
Hat das nicht sogar Jesus selbst ganz offen so gesagt, wenn er davon sprach, dass seine Jünger Menschenfischer sein sollen?
Es lässt sich nicht übersehen, dass wir ein ziemliches Problem haben, wenn wir mit Außenstehenden über den christlichen Glauben reden und ihnen etwas von unserer Hoffnung vermitteln wollen. Wir werden sehr oft nicht nur nicht verstanden. Wir werden sogar verdächtigt, andere vereinnahmen und ihren Verstand vernebeln zu wollen.
Und das gerade wegen der großen Worte und Geschichten, die unseren Glauben seit alter Zeit prägen.
Dieser weltanschauliche Gegenwind hat uns vorsichtig gemacht und oft auch kleinlaut in Bezug auf unseren Glauben. Andere missionieren wollen – das klingt heute schon wie ein Vorwurf.
Aber auch das Propagandaproblem findet sich schon in der Bibel und begegnet uns im Evangelium dieses 16. Sonntags nach Trinitatis wieder. Es geht um die spektakulärste Wundergeschichte des ganzen Neuen Testaments – die Auferweckung des Lazarus. Es ist unbestreitbar, das sie ursprünglich zu missionarischen Zwecken erzählt wurde und alle anderen Wunder, die in der alten Zeit auch von vielen anderen Wundertätern berichtet wurden, in den Schatten stellte. Jesus ist der größte Wundertäter. Das sollte die Botschaft sein.
Und das war offensichtlich auch dem Evangelisten Johannes bedenklich. Und zwar deshalb, weil ein solches äußerst spektakuläres Wunder nur einen äußerlichen Glauben hervorbringt, der Jesus auf einen Wundertäter reduziert und als Glaube keine Tiefe und keine Dauer besitzt.
Deshalb fügt Johannes immer wieder Jesusworte in diese Geschichte ein und gibt ihr damit eine ganz andere Richtung. Hören wir einmal wie er das macht:
Evangelium Joh 11,1(2)3.17-27(28-38a)38b-45
Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta. Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.
Da kam Jesus und fand Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen. Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. Viele Juden aber waren zu Marta und Maria gekommen, sie zu trösten wegen ihres Bruders. Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb im Haus sitzen. Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben. Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta spricht zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tage. Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das? Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.
Das Grab war aber eine Höhle, und ein Stein lag davor. Jesus spricht: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sagte ich’s, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast. Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen! Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.
Wir haben hier zwei Texte in einem:
Johannes erzählt die Lazarusgeschichte, die damit endet, dass viele, die dabei waren an Jesus glaubten. Es sind dieselben, von denen er im nächsten Kapitel schreibt: Obwohl er (Jesus) sich durch so große Wunderzeichen vor ihnen ausgewiesen hatte, schenkten sie ihm keinen Glauben. (12,37) Und am Ende verlangen sie, dass Pilatus den Räuber Barabas freigibt und Jesus hinrichten lässt.
Der andere Text, in dem das viel tiefere Glaubensverständnis des Evangelisten zum Ausdruck kommt, hat seine Mitte in dem eingefügten Jesuswort: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.
Damit können wir zunächst festhalten: Es gibt mehre, sehr verschiedene Arten von Glauben und Hoffnung:
Eine äußerliche, die sich an spektakulären Ereignissen festklammert und mit diesen steht und fällt. Solcher Glaube trägt nicht weit. Und solche Hoffnung wird immer wieder schnell enttäuscht und schlägt dann in ihr Gegenteil um.
Und eine tiefere, die sich an der Person Jesu, an seinen Worten und an seiner Gottesbeziehung orientiert und ihm nachfolgen will. Wer diesen Weg geht, durchlebt auch Höhen und Tiefen, aber durch die tragende persönliche Verbindung mit Jesus, kann diese Art von Glauben und Hoffnung in den Stürmen des Lebens wachsen.
Das kommt auch in dem Wochenlied für diesen Sonntag zum Ausdruck: Jesus lebt mit ihm auch ich (EG 115)
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Ein tieferer Glaube und einer tiefere Hoffnung, die nicht primär auf äußere Ereignisse gerichtet sind, sondern auf die Person des liebenden Gottes, kann eine innere Kraft entfalten, die auf andere Weise auch spektakulär erscheint. Beispiele dafür finden sich auch und gerade in der jüdischen Bibel, die wir – manchmal leider etwas geringschätzig – das Alte Testament nennen.
Hören wir dazu einen Abschnitt aus dem Buch der Klagelieder, das in der Tradition dem Propheten Jeremia zugeschrieben wird. Wir befinden uns dabei in der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier im Jahr 587 v.Chr. Hören wir vor allem darauf, wie hier ein Mensch in seinem Glauben mit Gott um neue Hoffnung ringt:
Klagelieder 3,(1-18)19-26.31-32 (Übersetzung: Die Gute Nachricht)
(Ich bin der Mann, der viel gelitten hat unter den zornigen Schlägen des HERRN. Ich bin es, den er vor sich hertrieb, immer tiefer in die dunkelste Nacht. Immer nur mich traf seine Faust, Tag für Tag, ohne einzuhalten. Er lässt meine Haut und mein Fleisch zerfallen und zerbricht mir alle meine Knochen. Von allen Seiten schließt er mich ein, er umstellt mich mit Bitterkeit und Qual. In Finsternis lässt er mich wohnen wie die, die schon seit langem tot sind. Er hat mich ummauert und in Ketten gelegt, aus diesem Gefängnis gibt es keinen Ausweg. Ich kann um Hilfe schreien, so viel ich will – mein Rufen dringt nicht durch bis an sein Ohr. Er hat mir den Weg mit Steinen versperrt, sodass ich ständig in die Irre gehe. Wie ein Bär hat er mir aufgelauert, wie ein Löwe in seinem Hinterhalt. Er hat mich vom Weg heruntergezerrt, dann hat er mich zusammengeschlagen. Er hat den Bogen auf mich angelegt und mich als Ziel für seine Pfeile benutzt. Pfeil auf Pfeil hat er abgeschossen und mir den Rücken damit durchbohrt. Die Leute meines Volkes lachen mich aus, täglich singen sie ihr Spottlied über mich. Er gab mir die bitterste Kost zu essen und ließ mich bitteren Wermut trinken. Er hat mich in den Staub gedrückt und mich gezwungen, Kies zu kauen. Das ruhige Leben hat er mir genommen; ich weiß nicht mehr, was Glück bedeutet. Ich habe keine Zukunft mehr, vom HERRN ist nichts mehr zu erhoffen!)
An all dieses rastlose Elend zu denken ist Gift für mich und macht mich bitter. Doch immer wieder muss ich daran denken und bin erfüllt von Verzweiflung und Schwermut. Ich will mich an etwas anderes erinnern, damit meine Hoffnung wiederkommt:
Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende, seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß. Ich sage: Der HERR ist mein Ein und Alles; darum setze ich meine Hoffnung auf ihn. Der HERR ist gut zu denen, die nach ihm fragen, zu allen, die seine Nähe suchen. Darum ist es das Beste, zu schweigen und auf die Hilfe des HERRN zu warten.
Der Herr verstößt uns nicht für immer. Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist.
Mir bleibt fast die Luft weg, wenn ich das lese. Rastloses Elend wird hier geschildert.
Leiden, wie es bis heute immer noch und immer wieder über Menschen kommt. Was macht das mit den Menschen? Wir sprechen von Traumatisierungen. Die Erfahrungen, die Menschen im Krieg und auf der Flucht machen mussten, prägen sich für den ganzen Rest des Lebens tief ein und verändern dieses Lebens. Wo führt das hin? Was sind die Folgen und Spätfolgen bis in die nächsten Generationen hinein? Ganze Heere von Therapeuten und Sozialarbeitern sind damit beschäftigt.
Und was sagt dieser Glaubende aus dem Buch der Klagelieder?
An all dieses rastlose Elend zu denken ist Gift für mich und macht mich bitter. Doch immer wieder muss ich daran denken und bin erfüllt von Verzweiflung und Schwermut. Ich will mich an etwas anderes erinnern, damit meine Hoffnung wiederkommt: Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende, seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß. Ich sage: Der HERR ist mein Ein und Alles; darum setze ich meine Hoffnung auf ihn. Der HERR ist gut zu denen, die nach ihm fragen, zu allen, die seine Nähe suchen. Darum ist es das Beste, zu schweigen und auf die Hilfe des HERRN zu warten. Der Herr verstößt uns nicht für immer. Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist.
So ein Glaube besitzt heilende Kraft. So einen Glauben wünsche ich mir für uns alle. Ein ringender Glaube, der sich zu dem Schluss durchringt: Von Gott will ich nicht lassen (EG365,1.2.5)
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Ein Glaube, der gegen bittere Erfahrungen – auch bittere Erfahrungen und Enttäuschungen mit Gott – anglaubt, setzt heilende Kräfte der Hoffnung frei.
Mit der Hoffnung ist es wie mit dem Glauben:
Es gibt eine äußere Seite, das worauf man hofft.
Und es gibt die innere Seite, das Hoffen selbst.
Wenn die äußere Hoffnung enttäuscht wird, weil das Leben nicht so verläuft, wie wir es uns vorgestellt und gewünscht hatten – und das geschieht immer wieder – dann fragt sich, wie stark die innere Seite der Hoffnung in uns ist.
Das sind entscheidende Momente im Leben, die schon zur Zeit des Neuen Testaments bekannt waren. Im Hebräerbrief heißt es in so einer kritischen Phase einmal: Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. (Hebr 10,35f.)
Hoffnung, die innere Kraft der Hoffnung, braucht ebenso wie die körperliche Kraft immer wieder neue Nahrung, damit sie nicht verkümmert. Diese Kraft kommt aus einem Glauben, der nicht vor dem Leiden und dem Tod kapituliert, sondern durch ihn hindurchgeht.
Das ist der tiefere, der existenzielle Sinn unseres Wochenspruchs: Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.
Als Wahlparole taugt er kaum, weil er äußerlich nicht verstanden werden kann. Aber wer sich mit Jesus auf den Weg durch das Leben macht, kann immer wieder aufs neue die Erfahrung machen, dass das keine leeren Worte sind, sondern Leitworte, die uns zu einem Leben aus der Kraft der Hoffnung ermutigen.
Zur Hoffnung ermutigt werden bedeutet im Lebensalltag, sich immer wieder neu seelisch entgiften und für den Weg der Liebe öffnen lassen.
Amen