In der Spannung zwischen Glaube und Wirklichkeit

1

Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich.
Dieses Lied ist ein Choral zu Psalm 147, dem Psalm des 12. Sonntags. nach Trinitatis.
Gott zu loben, ist ein fester Bestandteil unserer Gottesdienste und unseres Glaubens.
Gott zu loben – das richtet unsere Herzen auf, das erhebt unsere Seelen.
Das macht uns frei und weckt Freude in uns. Das stimmt uns auf Gott ein und lässt uns ihm nahe sein.
Aber manchmal will uns dieses Loben nicht so recht über die Lippen kommen.
Manchmal finden wir dazu keine Kraft und auch keinen Grund.
Manchmal sind unsere Herzen verschlossen, weil wir betrübt und verängstigt sind. Und dafür gibt es allzu viele Gründe:
Die Flut- und Feuerkatastrophen.
Die Bilder und Hilfeschreie aus Afghanistan.
Die offenkundige Vergeblichkeit unserer Anstrengungen.
Die Brüchigkeit unserer Ideen und Ideale.
Naturgewalten und menschliche Besessenheit zerstören in wenigen Augenblicken, was in jahrelanger Mühe und Hingabe aufgebaut wurde.
Wie können wir angesichts all dessen Gott loben?

Der Wochenspruch für diesen Sonntag aus Jes 42,3 macht genau das zum Thema:
diese Widersprüchlichkeit zwischen unserem Glauben an Gott auf der einen und unserer Erfahrung mit der Wirklichkeit des Lebens auf der anderen Seite.  

Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. (Jes42 3)

Der Satz will trösten und ermutigen. Ursprünglich die Israeliten nach der Rückkehr aus der Zwangsdeportation nach Babylon und beim Wiederaufbau nach der Zerstörung ihrer Heimat.
Aber auch uns, wenn wir diesen Satz heute als Gottes Wort und Wille hören.

Wie kann das gelingen mit der Tröstung und Ermutigung? 
Ein geknickte Rohr? Ein glimmender Docht? Das sind passende Bilder für ein Leben, von dem nicht mehr viel zu retten zu sein scheint. Zu der äußeren Not kommt auch noch die innere Erschütterung. Die Trauer, die Verzweiflung. Wo führt das die Herzen und die Seelen hin, die doch eigentlich Gott loben sollen?

Glaube und Wirklichkeit stehen in einer Spannung, die manchmal extreme Ausmaße annehmen kann.
Und jede Spannung – in der Physik wie in den Herzen und Seelen der Menschen – strebt nach einer Auflösung.
Das ist wie beim Tauziehen: früher oder später wird die eine oder die andere Seite alles mit sich reißen.
So kann die Wirklichkeitserfahrung den Glauben überwältigen und am Ende erdrücken. Ich kann einfach nicht mehr an einen lieben Gott glauben!  So etwas haben die meisten von uns schon einmal gehört. Und wir wissen, wie schwer darauf eine Antwort zu finden ist.
Die andere Möglichkeit besteht darin, den eigenen Glauben gegen die Wirklichkeit abzuschotten. Gott wird schon wissen, wozu all das gut ist!  Das klingt superfromm. Aber was ist das für ein Glaube, der bereit ist über Menschenleben zu gehen? Wir nennen das heute Fundamentalismus und Fanatismus und haben allen Grund, uns damit ebenso kritisch wie sensibel auseinanderzusetzen.

Gibt es nicht noch eine bessere Möglichkeit, mit der Spannung zwischen Glauben und Wirklichkeitserfahrung umzugehen?
Es gibt eine und die lautet: die Spannung aushalten!

Die Wirklichkeit kann den Glauben erdrücken, und der Glaube kann von der Wirklichkeit abheben.
Aber die Wirklichkeit kann den Glauben auch nüchtern machen und erden.
Und der Glaube kann die Wirklichkeit auch annehmen und in ihr die Saat der Liebe aussäen.

Wo das geschieht, wird die Spannung zwischen Glaube und Wirklichkeit zu einer lebensspendenen Kraft.          

Sind wir dazu fähig, so mit dieser Spannung umzugehen?
Eine Antwort auf diese Frage können wir in dem Lied Meine engen Grenzen suchen.

1. Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht
Bringe ich vor dich.
Wandle sie in Weite, Herr, erbarme dich?

2. Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt
Bringe ich vor dich.
Wandle sie in Stärke, Herr, erbarme dich?

3. Mein verlornes Zutraun, meine Ängstlichkeit
Bringe ich vor dich.
Wandle sie in Wärme, Herr, erbarme dich?

4. Meine tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit
Bringe ich vor dich.
Wandle sie in Heimat, Herr, erbarme dich? 

2

Das Lied bringt Glaube und Wirklichkeitserfahrung zusammen. Mehr noch: Es nimmt diese Spannung ins Gebet:
Herr, erbarme dich! – Kyrie eleison! Auch das gehört zu unserem Glauben und in jeden Gottesdienst. Es kommt sogar noch vor dem Ehre sei Gott in der Höhe, noch vor dem Gotteslob, das – tiefer betrachtet – manchmal so überhaupt erst möglich wird.

Wenn die Spannung ins Gebet genommen wird, geschieht enorm viel:
Da berühren sich Himmel und Erde.
Da kann es zu einem entscheidenden, hochenergetischen Kontakt kommen, der uns Menschen verändert.
Ein Kontakt, der uns mit einer Kraft und einer Hoffnung auflädt, die nicht von dieser Welt sind, die aber dringend in dieser Welt gebraucht werden, damit das mit der Aussaat der Liebe kein bloßer Traum bleibt, sondern Wirklichkeit wird.

Funktioniert das wirklich? Der christliche Glaube kann darauf nur antworten: Schaut auf Jesus, der die Spannung zwischen Glaube und Wirklichkeit ausgehalten und bis in den Tod hinein gelebt hat.    

Im heutigen Evangelium aus Markus 7,31-37 hören wir, wie er einem Taubstummen heilt.

Als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam Jesus durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

Für die ersten Christen war das eine sehr eindrückliche Geschichte. Das wird an den letzten Worten deutlich: Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.  Auf dem Hintergrund der hebräischen Bibel und im Bewusstsein der alten Prophetenworte haben sie darin die Erfüllung der messianischen Weissagungen gesehen. Das ist ein Zeichen für das Kommen Gottes. Hier und jetzt fängt sein Reich und seine Wirklichkeit unter uns zu wirken an.  

Dabei war das Wunder selbst gar nicht das Entscheidende. Zur Zeit Jesu waren viele Wundergeschichten im Umlauf. Das waren die Erfolgsstorys der alten Zeit, mit denen Likes und Follower generiert wurden, wie wir heute sagen würden. Und damit fällt auch ein großer Schatten auf diese Geschichten: Ist das nicht alles bloß Propaganda? Mittel zu dem Zweck, die eigene Partei und sich selbst in den Vordergrund zu schieben?

Mit diesem Einwand müssen wir heute rechnen und uns auch damit auseinandersetzen. Er ist eine weitere, eine moderne Facette in der Spannung zwischen Glaube und Wirklichkeit. Deshalb lohnt es sich, noch einmal genauer in diese Geschichte aus Markus 7 zu schauen. Da findet sich nämlich im Anschluss an die Heilung des Taubstummen noch eine merkwürdige Aussage: Und Jesus gebot ihnen, sie sollten’s niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus.

Wie lässt sich diese Widersprüchlichkeit verstehen? Offensichtlich so, dass es Jesus hier gerade nicht darauf ankommt, seine Heilungstat zu Propagandazwecken auszuschlachten. Er weiß offensichtlich schon, wohin das führt: Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. Aber es erzeugt keinen tiefen, keinen nachhaltigen Glauben, der in der Spannung mit der Wirklichkeit standhält und zur Quelle der Kraft und der Hoffnung wird. Das hat sich ja im Leben Jesu selbst bewahrheitet. Es waren die von seinen Wundern begeisterten Follower, die wenige Tage nach der Auferweckung des Lazarus, Kreuzige ihn! geschrieen haben.      

Wichtiger als das Wunder ist das Hefata! Das Jesus spricht und bewirkt: Tu dich auf! Öffne dich!

3

Offen bleiben und sich täglich neu öffnen lassen – für den Glauben und für die Wirklichkeit dieser ebenso schönen wie schrecklichen Welt. Darum geht es. Das ist die Aufgabe, mit der wir nie fertig werden. Bei der wir immer wieder Rückschläge erleben. Mit der wir beinahe täglich neue anfangen müssen.

Wir denken heute in Prozessen und fragen nach dem Erfolg, den wir gern anhand von Fortschrittsbalken messen und darstellen. Wenn es um die Spannung von Glaube und Wirklichkeit geht, kommen wir damit in diesem Zusammenhang wohl nicht weiter. Da passt eher ein anderes Bild, das wegen seiner sprunghaften Unberechenbarkeit gar nicht sehr beliebt ist und deshalb manchmal sogar wie eine psychische Krankheit betrachtet wird: Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.  Beides steht in der Spannung von Glaube und Wirklichkeit eng beieinander und kann manchmal schnell wechseln. Aber mit beidem stehen wir nicht allein. Es kann uns daraus Energie zufließen, wenn wir Kyrie eleison und Ehre sein Gott in der Höhe sagen, schreien und singen.

Amen     

Ein Kommentar zu „In der Spannung zwischen Glaube und Wirklichkeit

  1. Bin immer noch bewegt von der Predigt am Sonntag! Hat für mich aktuell sehr gepasst in einigen Lebensfragen. Danke dafür!

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