Vom Sinn und Zweck der Sonntagsreden

1. Die Frage nach dem Gesetz Christi

Einer trage des andern Last!  Diesem Spruch für den 4. Sonntag nach Trinitatis kann man doch eigentlich nur zustimmen. Und vielleicht noch mit einem Seufzer hinzufügen: Ja, wenn sich nur alle daran halten würden, dann sähe es auf der Welt doch gleich viel besser aus.

Und schon sind wir mittendrin in einem der Hauptprobleme unseres Glaubens und Lebens!

Ist das nicht ein typischer Spruch für die oft leicht spöttisch apostrophierten Sonntagsreden: Grundsätzlich ganz wunderbar. So, wie der Mensch sein soll: edel, hilfreich und gut. Aber im vielzitierten harten Alltag? Da heißt es dann oft: Auch ich habe nur zwei Hände!      Und im großen Zusammenhang: Wir können nicht das Sozialamt der ganzen Welt sein! 

Mit solchen Sätzen kann man den Spruch ziemlich leicht vom Tisch wischen und dabei sogar noch Zustimmung und Verständnis ernten. Es klingt ja realistisch und ent-lastend, wenn jemand auf die Grenzen des Möglichen und Machbaren  verweist. Manchmal heißt es dann sogar noch: Schließlich sind wir nicht der liebe Gott!

Muss man das nicht akzeptieren?

Es ist gut, die eigenen Grenzen im Blick zu haben. Aber es ist fragwürdig, wenn wir an diesen Grenzen Mauern bauen, um sie undurchlässig zu machen.

Der Mauerbau beginnt immer in den Köpfen. Der Mörtel dazu wird nicht nur mit Wasser, sondern zuerst und vor allem auch mit Worten angerührt.

An und mit unseren Grenzen darf das Gespräch nicht enden! Dort muss es erst recht beginnen! Und das nicht nur in den Sonntagsreden, sondern mitten im praktischen Alltag!

Darf nicht! und Muss! – das klingt sehr fordernd und gesetzlich. 

Bei uns Evangelischen ist ja gesetzlich ein ziemlich belasteter Begriff. Wir wollen doch nicht gesetzlich sein und den Glauben mit Bedingungen und Forderungen verbinden!    Dann wäre doch Martin Luther – fasst hätte ich gesagt: umsonst gestorben.

Manchmal können auch Begriffe zu Mauersteinen werden und Denkwege zu Denkblockaden werden. Deshalb bin ich sehr froh, dass unser Wochenspruch aus zwei Teilen besteht: Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.

Es geht hier nicht um das Gesetz und um Gesetzlichkeit, sondern um das Gesetz Christi. Nicht um die Befolgung besonderer Vorschriften und die Erfüllung einzelner Forderungen, sondern um ein Leben in der Nachfolge dessen, der uns die Liebe Gottes vorgelebt und uns eingeladen hat, im Prozess, am Lauf und beim Fortschritt dieser Liebe in der Welt mitzuwirken.

Wie das im einzelnen klingt und ist mit diesem Gesetz Christi, dazu finden wir ein Beispiel im Evangelium für den 4. Sonntag nach Trinitatis aus Lukas 6,36-42:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

2. Die erlösenden Worte Jesu

Das Gesetz Christi – nach der Perikopenordnung unserer Kirche – der Zusammenstellung biblischer Texte im Kirchenjahr – wird es heute direkt mit dem Wort der diesjährigen Jahreslosung verbunden: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Genau in der Mitte des Jahres werden wir im Evangelium dieses Sonntags noch einmal daran erinnert, worauf Jesus besonderen Wert legt.

Mit dieser Verknüpfung eröffnen sich noch einmal ganz neue Aspekte, die uns auch direkt zu den aktuellen Fragen dieser Tage hinführen: Einer trage des andern Last!  Dabei haben wir nicht nur an überlastete Menschen zu denken.

Richtet nicht! Verdammt nicht! Vergebt! Im Zusammenhang mit diesen Worten aus dem Evangelium kommen nun auch die anderen in den Blick, die uns zur Last werden. Die Menschen, die wir als Belastung empfinden: Die Störer, die Nörgler, die Querdenker, die Coronaleugner, die uns mit ihrer demonstrativen Ignoranz Angst machen und zur Bedrohung werden können.

Da tauchen doch sofort wieder Fragen auf: Geht das jetzt nicht ein bisschen zu weit mit dem Lastentragen und Barmherzigsein? Muss man in einem solchen Fall nicht klare Kante zeigen? Ist es nicht gerade und insbesondere die Aufgabe von Verantwortungsträgern – von den Mitgliedern der Bundesregierung bis zu den Kirchvorstehern einer Gemeinde – solchen Menschen, die für andere zur Bedrohung werden können, mit aller Klarheit und Entschiedenheit entgegenzutreten? Damit der Schaden und die Last für alle nicht noch größer wird?!

Wieder sind wir an dem Punkt, wo die harten Erfordernisse der Alltagsrealität gewichtiger erscheinen als der vergleichsweise nebulöse Geist der Sonntagsreden.

Doch ich bin nun einmal ein Sonntagsredner und meine Aufgabe ist es, auf die besondere Rolle und Bedeutung dieses Geistes hinzuweisen.

Ich gebe zu, manchmal hätte ich mir einen einfacheren Job gewünscht. Doch das Gesetz Christi und der Geist Jesu sind viel wichtiger,    weil daran – das klingt jetzt sehr vollmundig und gehört doch zum Kern unseres christlichen Glaubens – weil daran unsere Erlösung hängt.

So eine große Behauptung muss ich natürlich begründen. Und diese Begründung darf nicht aus den fernen Höhen einer himmlischen Theologie erfolgen. Schließlich ist ja Gott selbst von dort herabgestiegen, um uns nahe zu sein und die Last und das Leid des menschlichen Lebens mit uns zu tragen und zu teilen. Das Gesetz Christi und der Geist Jesu dienen unserer Erlösung, weil mit ihnen die zerstörerischen Kreisläufe von Ablehnung, Hass und Vergeltung durchbrochen werden. Das Gesetz Christi und der Geist Jesu verhindern, dass aus Meinungsverschiedenheit menschliche Ablehnung wird und aus klarer Kante in der Sache Feindschaft und Verteufelung von Menschen. 

Jesus hat sich da sehr klar und deutlich ausgedrückt. Wenige Verse vor unserem heutigen Sonntagsevangelium sagt er in Lukas 6,27-28:

Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.

Das ist seine Lösung und nach meinem Verständnis auch die Erlösung von den tödlichen Verstrickungen der Menschen in Schuld, Leid und Sünde.

Diese Kreisläufe müssen durchbrochen werden, damit das endlich aufhört.

Nicht mehr Auge um Auge und Zahn um Zahn —  was zwar ursprünglich im Sinne eines gerechten Augleichs gemeint war – Auge um Auge und nicht mehr! – aber im – genau: im praktischen Alltag dann eben doch ausuferte. Wenn es mit dem Schlagabtausch erst einmal losgeht, dann ist ja meist kein Halten mehr!

So nicht! Sagt das Gesetz Christi, das zugleich das Evangelium für unsere Welt ist. So soll es nicht mehr sein. Einer trage des anderen Last! Auch und gerade dann, wenn dir der Andere schwer zu schaffen macht. Dann lass dich nicht hineinziehen in diese unseligen Kreisläufe und Spiralen aus Angst und Gegenreaktionen. Bleib – hier passt es wirklich einmal dieses inflationär verwendete Wort aus der Jugendsprache – bleib cool!

Aber ist das überhaupt möglich? Kann ein Mensch cool bleiben, wenn ringsum die Emotionen hochkochen? Schaltet dann der Autopilot in uns nicht automatisch und aus gutem Grund das Panikprogramm ein? Ist das nicht sogar biologisch sinnvoll?

Biologisch und als kurzfristiger Reflex vielleicht.

Aber menschlich und gesellschaftlich – wenn dabei das alte Freund-Feind-Denken die Oberhand gewinnt – da verfestigen sich diese kurzfristigen panischen Reflexe eben leider allzu schnell und allzu oft. Und dann passiert es eben, dass wir diese Rückkopplungsschleife von Ursache und panikgesteuerter Reaktion erzeugen, die zu neuen Gegenreaktionen führt.    Diese bekannte Eskalation von Angst und Gegenangst bedroht uns    nicht nur bei Polizeieinsätzen, sondern auch im persönlichen Leben und bei der Entscheidungsfindung von Gremien, die plötzlich mit solchen Belastungen konfrontiert werden.    

Nocheinmal: Wie kommen wir da raus? Die Polizei hat dafür ein Deeskalationstraining in ihrem Ausbildungsprogramm.

Da lernen die Beamten so mit ihren eigenen Ängsten und Reflexen umzugehen, dass sie nicht Öl ins Feuer gießen, sondern löschen, damit beide Seiten möglichst cool bleiben können.  

Haben wir als Christen auch so einen Ausbilder, der uns das vermittelt, was uns ja nicht in die Wiege gelegt worden ist? Einen Coach, der hilft, dass die Worte Jesu nicht nur ein schöngeistiger Inhalt von Sonntagsreden bleiben, sondern alltagswirksam werden?

Wir haben einen! Jesus nennt ihn im Johannesevangelium den Beistand und Fürsprecher, den er uns gibt und der uns lehrt, alles zu halten, was er selbst uns gesagt hat. Es ist der Heilige Geist. Gott selbst als lebendiges Wort und als wirksame Kraft in uns. Als Geist, der uns aus den alten Verstrickungen löst und damit auf den Weg zur Erlösung führt.

Lassen Sie uns jetzt gemeinsam unseren Glauben an diesen Geist zum Ausdruck bringen und einmal ganz bewusst miteinander nur den 3. Artikel unseres Glaubensbekenntnisses sprechen:

Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.

3.Das Wirken des Geistes

Wenn der Heilige Geist in uns wirkt, sind wir nicht mehr die alten. Dann bestimmen im Umgang mit belastenden Situationen und Menschen in erster Linie nicht mehr Sorge und Abgrenzung unser Denken und Entscheiden, sondern die  Liebe. Und die Liebe fragt zuerst, wie wir diese belastenden Menschen ertragen und diese Situationen erträglich machen können.  Dazu ist im Einzelfall sehr viel Kraft und auch Phantasie erforderlich. Aber wo dieser Geist wirkt, setzt er genau das in uns frei.

I have a dream!  Diese Worte von Martin Luther King,   sein Traum von der Überwindung der Gewalt und Spaltung zwischen den Menschen,   ist um die Welt gegangen und hat viele inspiriert, in belastenden Situationen nach neuen gewaltlosen Lösungen zu suchen.

Nach solchen Zeichen zu suchen und solche Beispiele zu sammeln und ins Gespräch zu bringen, das erscheint mir als eine wichtige Teilaufgabe, wenn es darum geht, das Gesetz Christi zu erfüllen.

Darum will ich zum Abschluss noch an eine solche Geschichte erinnern. Sie stammt aus dem heutigen Predigttext, den unsere Perikopenordnung ebenfalls mit dem Spruch und dem Evangelium dieses Sonntags verknüpft hat.

Es ist die bewegte und bewegende Geschichte von Joseph, dem zweitjüngsten der zwölf Söhne Jakobs. Nach der großen, romanhaften Erzählung aus dem 1. Mosebuch wird der junge Joseph, der offensichtliche Liebling ihres Vaters, von seinen neidischen Brüdern gehasst und bei günstiger Gelegenheit überwältigt und an Sklavenhändler verkauft, die ihn nach Ägypten bringen. Dort kommt er nach sehr wechselvollen Umständen an den Hof des Pharao und steigt in höchste Machtpositionen auf. Eine Hungersnot in Israel führt die Brüder nach vielen Jahren wieder zusammen.

Jetzt war der Tag gekommen. Jetzt endlich könnte Joseph seinen Brüdern vergelten, was sie ihm angetan haben. So dachten zumindest die Brüder und das mit gutem Grund. Und hier setzt die überraschende Wende ein, mit der das 1. Mosebuch in Kapitel 50,15-21 seinen Abschluss findet:           

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Der Fluch ist gebrochen und der Kreislauf von Angst, Hass und Gewalt hat ein Ende gefunden. So wirkt Gottes Geist: Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht.

Als ich ein kleines Kind war, habe ich ein Gebet gelernt: Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!

Heute bete ich eher in umgekehrter Richtung: Lieber Gott, lass mich aus deinem Himmel heraus leben, damit ich fromm und zum Guten tüchtig werden kann. Amen.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s