Beten lernen

1.

Das Thema des Sonntags Rogate ist – wie der lateinische Name schon sagt – das Beten. Das ist nicht ein Glaubens-Thema neben vielen anderen. Hier geht es um etwas Zentrales und Grundlegendes.
Welche Bedeutung das Beten für den Glauben hat, lässt sich ganz zutreffend mit einem Begriff aus der Computertechnologie ausdrücken: Beten ist für den Glauben so etwas wie das Betriebssystem. Bei Störungen im Betriebssystem läuft das Ganze entweder gar nicht, oder es läuft aus dem Ruder.
Warum hat das Gebet so eine grundlegende Bedeutung? Weil es die Schnittstelle zwischen Gott und Mensch ist.

Auf die immer wieder neu gestellt Frage: Wo ist denn Gott? gibt es eine Antwort, die mich besonders überzeugt. Sie stammt von der jüdischen Dichterin Nelly Sachs, die 1940 nach Schweden emigrierte und 1966 als erste deutsche Dichterin den Literaturnobelpreis erhielt: Gott ist ein Gebet weit von uns entfernt.
Was für ein Satz! 
“Gott“ ist heute für viele Menschen nur noch eine überholte, engstirnige und außerdem auch noch gefährliche menschliche Phantasievorstellung, auf die sie liebend gern und manchmal geradezu erleichtert verzichten.
Und auch Christen fällt es heute schwer, einigermaßen klar und verständlich zu sagen, was sie eigentlich meinen, wenn sie „Gott“ sagen. 

Gott ist ein Gebet weit von uns entfernt.  Dieser kurze Satz bringt es mit acht Worten auf den Punkt: Gott ist nichts und niemand, den wir irgendwo draußen in der Welt entdecken und in den Griff bekommen können – auch nicht in den Be-Griff unseres Denkens. Wenn das der einzige Maßstab wäre für das, was als wirklich gilt, dann müssten wir wohl oder übel zu dem Schluss kommen, dass es Gott gar nicht gibt.
Doch das wäre ein sehr enger Maßstab, der auch die Kunst und die Liebe verfehlen und auf Funktionen des menschlichen Stoffwechsels und der Psychologie reduzieren würde.
Auch die Höhen der Kunst und die Tiefe der Liebe erschließen sich nur über besondere Zugangsweisen. Auch in diesen Beziehungen muss etwas in uns selbst da und wach sein, damit wir das Entscheidende überhaupt mitkriegen können, damit es uns überhaupt angehen und ein Funke auf uns überspringen kann. Der Funke, der gern belebend oder erleuchtend oder beseligend genannt wird.

Dieses Etwas in uns selbst hängt an drei wichtigen inneren Voraussetzungen:

1. Wir brauchen zunächst eine gewisse anfängliche Erfahrung mit oder wenigstens eine Ahnung von der Bedeutung, der Größe, der Tiefe, der Güte, der Wahrheit oder der Schönheit dessen, worauf wir uns da möglicherweise einlassen. Wer schon einmal von einem Bild oder einer Musik oder von einem Wort in seinem Innersten angerührt worden ist und wer schon einmal das Geschenk tiefer Liebe erfahren hat, der trägt die wichtigste Anfangsvoraussetzung schon in sich. Er oder sie weiß bereits, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt. Und dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulwissenschaft uns gewöhnlich denken lässt.

2. Aus einer solchen Erfahrung kann eine Erwartungshaltung erwachsen: Von dem, was mich einmal so angerührt hat, da muss es doch noch mehr geben. Da muss es doch noch weiter gehen. Da muss ich doch noch einen tieferen Zugang finden können.
Dieses Da-muss-doch ist wie ein Samenkorn, das in uns keimen und wachsen will. Damit sich dieser Prozess weiter entfalten kann, braucht es geeignete Wachstumsbedingungen! Wir wissen aus dem Gleichnis vom viererlei Acker, aber auch aus dem Leben selbst, dass das nicht überall der Fall ist.

3. Wenn sich die Erwartung entfalten kann und weiter gepflegt – das Fremdwort dafür heißt kultiviert – wird, dann kann daraus eine besondere Empfänglichkeit entstehen. Diese Empfänglichkeit ist es, die uns aufschließt für das Gute, Wahre und Schöne. Die uns erkennen lässt, dass es dabei nicht nur um leere Phrasen oder um hohles Pathos geht. Hohl und leer erscheint es nur denen, deren Inneres vor dem, was uns Menschen da aus der Höhe und Tiefe und Weite des Lebens angehen kann, noch verschlossen ist.    

Diese anfängliche Ahnung und Erfahrung von etwas Größerem und Gütigerem als wir selbst,     
diese Erwartungshaltung, dass dabei ein Geist und Wille am Werk ist, der uns noch mehr tiefer in das Leben hineinführen kann,   
und diese innere Empfänglichkeit, die sich dafür öffnet und danach ausstreckt – führt uns zum Gebet. 
Der Prophet Jeremia bringt das alles in einem Gotteswort zusammen:      Rufe mich an, so will ich dir antworten und will dir kundtun große und unfassbare Dinge, von denen du nichts weißt. (Jer33,3)

2.

Beten hängt eng mit bitten zusammen. Dabei spielen natürlich auch unsere Erwartungen eine große Rolle.
Ich weiß es noch genau: Als Kind habe ich mir sehnlichst auch so einen tollen Luftroller wie die Nachbarskinder gewünscht. Abends hat meine Mutter mit mir gebetet: Ich bin klein, mein Herz mach rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Und einige Zeit wohnte in diesem kleinen Herzen auch der Wunsch nach dem Luftroller. Lieber Gott, mach doch bitte, dass ich auch so einen Luftroller kriege. Ich habe einen bekommen.
Ein paar Jahre später ließen sich meine Eltern scheiden. Daran haben die Gebete nichts geändert. Und in der Jungen Gemeinde haben wir gesungen:
Um Frieden haben wir schon oft gebetet, viele schöne Worte schon gemacht.
Es wär auch schlimm, wenn man nicht davon redet, doch wer hat schon an die Tat gedacht?
Ist es gut, wenn anderswo die Menschen sterben, und wir singen fromm halleluja?
Morgen liegt vielleicht schon unsre Welt in Scherben, weil so wenig Liebe heut geschah!

War das also mit dem Beten doch nur eine fromme Selbsttäuschung?
Zählt nicht einzig und allein die Tat?
Es gibt nicht Gutes, außer man tut es!  

Viele stoßen mit ihren Kindergebeten irgendwann an Grenzen.
Ist das dann das Ende mit dem Beten?
Oder ist es ein neuer Anfang?
Gibt es eine Art Beten 2.0, ein Beten für Fortgeschrittene? 
Und wenn ja, kann man das lernen? 

Was Jesus dazu sagt, lesen wir im Evangelium für den Sonntag Rogate in Lukas 11,1-13:
Es begab sich, dass Jesus an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.
Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Unser tägliches Brot gib uns Tag für Tag und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben allen, die an uns schuldig werden. Und führe uns nicht in Versuchung.
Und er sprach zu ihnen: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, soviel er bedarf.
Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.
Wo ist unter euch ein Vater, der seinem Sohn, wenn der ihn um einen Fisch bittet, eine Schlange für den Fisch biete? Oder der ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion dafür biete? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten!

3.

Da haben wir es mit dem Betenlernen! Was uns Jesus in diesem Bibelabschnitt sagen und zeigen will, lässt sich als Antwort auf drei grundlegende Fragen an das Beten verstehen:
Wie und was und warum sollen wir beten ?

1. Wie sollen wir beten ?
Diese Frage nimmt den meisten Raum ein und lässt sich doch mit einem ebenso knappen wie überraschenden Wort beantworten: unverschämt.
Jesus spricht von einem unverschämten Drängen. Von einem hartnäckigen Bitten und Suchen und Anklopfen, jederzeit – und sei es um Mitternacht. Wenn etwas wirklich von größter Wichtigkeit ist, dann dürfen und müssen notfalls auch gewohnte Regeln und Konventionen in Frage gestellt werden.
Das Wort unverschämt hat aber noch eine zweite, ursprünglichere Bedeutung:
Ohne Scham und ohne falschen Stolz dürfen wir beten. Gerade das können nämlich ernste Hinderungsgründe sein. Wer sich gern selbst groß und großartig  sehen möchte, steht sich oft selbst im Weg, wenn es darum geht, die eigene Abhängigkeit und Bedürftigkeit einzugestehen und um Beistand und Hilfe zu bitten.  
Damit sind wir auch schon bei den Inhalten.

2. Was sollen wir beten?
Jesus hat seine Jünger und mit ihnen auch uns das Vaterunser gelehrt.
Die uns geläufige Fassung steht im Mittelpunkt der Bergpredigt (Mat6,9-13) und ist in Martin Luthers Kleinem Katechismus nach den Zehn Geboten und dem Glaubensbekenntnis das Dritte Hauptstück des Glaubens. Ich halte es für das Herzstück, weil es die Verbindung zu Gott herstellt und den Glauben mit Leben und Kraft erfüllt.
Es war in seiner Umgebung einzigartig, dass Jesus zu Gott einfach Abba sagt und uns in diese enge Vertrauensgemeinschaft mit hineinnimmt.  Der Schöpfer der Welt, der Maßstab und Richter allen Lebens, das unergründliche Geheimnis und Rätsel allen Seins – Jesus sagt dazu einfach, Vater unser im Himmel, nein eigentlich noch vertraulicher: Du, Papa, von und über uns allen!

Wer das sagen kann, für den ist die Welt eine andere geworden – nicht einfach trostlos, nicht länger hoffnungslos und nicht mehr ohne Liebe. 
Diese Art zu beten verändert den gesamten Lebenshorizont.
Und sie verändert auch einen unserer größten Schätze, den wir oft nur wenig schätzen: unsere Sprache.
Sie nimmt aus ihr die Unruhe und die Angst und den Zweifel und auch den Hass – Vater unser im Himmel! Du, Papa, von und über uns allen! 
Und sie setzt neue Prioritäten: Du sollst da sein! Du sollst das Sagen haben! Du sollst bei uns Gehör finden!
Wenn das geschieht, dann wird es gut mit uns – im Alltäglichen und auch im oftmals Schwierigen zwischen den Menschen und letzten Endes auch in allen Bedrohungen, die uns ein Leben lang umgeben werden.
Ja und Amen, darauf wollen und dürfen wir uns verlassen, Dank sei dir, lieber Vater!  

3. Damit sind wir auch schon bei der letzten Frage: Warum sollen wir überhaupt beten?
Für viele scheint das heute die einzige und wichtigste Frage in Bezug auf das Beten zu sein. Wenn wir Gott nicht erkennen können und es deshalb ziemlich fraglich erscheint, ob er auch wirklich existiert,   und wenn es sich außerdem immer wieder herausgestellt hat, dass so viele Wünsche und Bitten einfach ins Leere laufen und nicht erfüllt werden, obwohl viele davon  doch wirklich ernst und wichtig gewesen sind, warum soll man dann – bitteschön – überhaupt (noch) beten??

So fragen wir, wenn wir von uns selbst ausgehen und unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen zum Maßstab machen. Als Kinder haben wir das ja alles noch ganz gern geglaubt. Aber inzwischen sind wir klüger geworden.
Sind wir, wenn wir so fragen, wirklich klüger geworden? Oder sind wir damit in Wahrheit eher ärmer geworden?   Wenn wir klüger geworden sind, dann wissen wir, dass wir uns Gott nicht als  Dienstleistungsunternehmer zur Erfüllung menschlicher Wünsche vorstellen sollten.
Als was aber dann? Wir haben schon gehört, wie es der Prophet Jeremia mit einem einzigen Gotteswort auf den Punkt gebracht hat:   Rufe mich an, so will ich dir antworten und will dir kundtun große und unfassbare Dinge, von denen du nichts weißt (Jer33,3).
Jesus sagt das mit seinen Worten genauso und geht sogar noch einen Schritt weiter: Der Vater im Himmel wird den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! (Lukas 11,13)

Was heißt das?
Gott erfüllt nicht unsere Wünsche, er erfüllt uns selbst. 
Gott erfüllt unsere Herzen und unseren Geist mit seinem Geist.
Gott erfüllt unser Leben mit seiner Kraft und mit seiner Liebe.
Wir bitten um viele Dinge und Gott schenkt uns seine Nähe, in der wir selbst auf große und unfassbare Weise neu werden können.
Darum sollen wir beten.
Ob wir das alles recht verstehen können?
Das hängt sehr von unseren Erfahrungen und von unserer Erwartungshaltung und von unserer Empfänglichkeit ab.
Auch darum beten wir im Vaterunser:
Geheiligt werde Dein Name – auch in uns!
Dein Reich komme – auch in uns!
Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden – auch in uns!

Amen.

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