1. Krisenerfahrungen
Es geht seinen Gang. Über lange Zeit hin war das bei uns eine sehr geläufige und oft benutzte Wendung, wenn man sich über die Frage verständigen wollte: Wie es denn so läuft. Die Gewohnheit war bestimmend, vor allem zu DDR-Zeiten, in denen sich kaum etwas zu bewegen schien. Nach der Wende wechselte die Gangart. Beschleunigung wurde zu einem wichtigen Merkmal der neuen Lebenserfahrung und die Vertiefung von Unterschieden: Für die einen ging es nun mehr oder weniger steil bergauf, für andere bergab. Aber bisher schien es doch für die allermeisten immer irgendwie weiterzugehen.
Diese Grundannahme dem Leben gegenüber, diese selbstverständlich gewordene Gewohnheit – das ist heute erschüttert und fraglich geworden. Jetzt erfahren wir, dass nicht mehr alles seinen Gang zu geht. Krise ist der neue Oberbegriff. In kurzer Zeit ist unser gewohntes Leben ins Stocken geraten. Wir befinden uns inmitten von Widersprüchen, die uns von allen Seiten wie bedrohlich näherkommende Wände einengen und uns den Weg abschneiden. Damit verbunden, bestimmen ganz neue Worte die Tagesordnung: Lockdown, um Leben zu retten und den Kollaps des Gesundheitswesens zu verhindern? Oder Lockerung, um wirtschaftliche Existenzen zu retten und Druck aus dem Kessel der brodelnden Befindlichkeiten zu nehmen?
Es ist eine Zwickmühle oder – in gehobenerer Sprache – ein Dilemma. Da geht es nicht mehr seinen gewohnten Gang. Da passt eine andere Redewendung: Wie man’s macht, macht man’s verkehrt! Da kann nur noch das kleinere Übel und der beste aller schlechten Kompromisse gesucht werden. Doch weil sich dabei unterschiedliche Interessen gegenüberstehen, gibt es immer von einer oder mehreren Seiten Kritik und oft laute Proteste.
Wie soll es weitergehen? Schlagworte behämmern das öffentliche Bewusstsein: Inzidenzwerte! Reiseverbote! Querdenker! Polizeieinsätze! Impfdebakel! Osterruhe! Politikversagen…
…Hosianna! Kreuzige! Die letzten beiden Schlagworte stammen aus der Passionsgeschichte Jesu. Eben, am Palmsonntag, hat sich die Tochter Zion – gemeint ist damit die Stadt Jerusalem – noch gefreut und gejubelt und Jesus als Hoffnungsträger und König begrüßt. Fünf Tage später, am Karfreitag, kommt es zu dem krassen Stimmungswechsel in der Bevölkerung.
Und wovon lassen sich die politisch Verantwortlichen leiten? Was sagt der Hohe Rat? Er sagt: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Tempel und Volk. Einer aber von ihnen, Kaiphas, der in diesem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts; ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe (Joh 11,47-50). Dazwischen falsche Zeugen. Fake News.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich möchte unsere Situation heute nicht mit den Ereignissen in der Passion Jesu vergleichen. Auch und schon gar nicht die politischen Verantwortungsträger!
Ich denke aber, dass uns die Passionserzählungen und die weiteren Texte für den heutigen Tag helfen können, das Dilemma, in dem wir stecken, tiefer zu verstehen. Und ich hoffe, dass wir dabei fünf wichtige Einsichten und Impulse für unseren Umgang mit der Krise finden können.
Die erste Einsicht:
Vor allem das Johannesevangelium zeigt uns, wie doppeldeutig und wie schwankend unsere Erfahrung und unser menschliches Urteil sein können. Hosianna! und Kreuzige! Glanz und Elend. Begeisterte Zustimmung und hasserfüllte Ablehnung. Beides auf engstem Raum, dicht nebeneinander in menschlichen Herzen. Menschen, die von einem Wahn besessen sind. Menschen, die zu rasen anfangen. Menschen, die zur Bedrohung werden und das Leben in ihrem Umkreis vernichten können.
Was geschieht wenn Pandemie und Paranoia zusammentreffen?
Die zweite Einsicht:
Wir müssen nicht blindlings und besinnungslos im Strom dieser Kräfte dahintreiben. Wir sind keine wilde Büffelherde, die – wenn sie einmal losdonnern – alles zertrampeln, was ihnen in die Quere kommt. Wir haben eine bessere Möglichkeit, mit unserer Angst und Unmut umzugehen.
Diese Möglichkeit ist das betende Klagen.
Wir haben dazu hervorragende Lernmaterialien in unseren Psalmen. Auch Jesus hat in seiner höchsten Not darauf zurückgegriffen.
Lasst uns jetzt im Wechsel miteinander Worte aus Psalm 69, den Psalm des Palmsonntags, beten:
Gott, hilf mir!
Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle.
Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist;
ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen.
Ich habe mich müde geschrien,
mein Hals ist heiser.
Meine Augen sind trübe geworden,
weil ich so lange harren muss auf meinen Gott.
Ich aber bete zu dir, HERR, zur Zeit der Gnade;
Gott, nach deiner großen Güte erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.
Errette mich aus dem Schlamm,
dass ich nicht versinke,
dass ich errettet werde vor denen, die mich hassen,
und aus den tiefen Wassern;
dass mich die Flut nicht ersäufe und die Tiefe nicht erschling
und das Loch des Brunnens sich nicht über mir schließe.
Erhöre mich, HERR, denn deine Güte ist tröstlich;
wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit
und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte,
denn mir ist angst; erhöre mich eilends.
Nahe dich zu meiner Seele und erlöse sie,
Gott, deine Hilfe schütze mich!
Ich habe mich müde geschrien. Meine Augen sind trübe geworden. So ist es. Bis heute.
Dass mich die Flut nicht ersäufe und die Tiefe nicht verschlinge. Das ist die Bedrohung. Bis heute.
Was aber unterscheidet dieses betende Klagen von aussichtslosem Jammern?
Aussichtsloses Jammern führt früher oder später entweder in Resignation und Depression. Oder es schlägt um in Wut und Aggression. Das ist die Dynamik, der unsere menschlichen Emotionen gewöhnlich folgen.
Das betende Klagen unterbricht diese Dynamik und schlägt einen anderen Weg ein: den Weg der Paradoxie.
Paradox ist etwas, das gegen den äußeren Anschein (griechisch: doxa) und gegen die gewöhnliche Erwartung spricht. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist. Erhöre mich, Herr, denn deine Güte ist tröstlich.
In, mit und unter einem solchen Worten , da tut sich etwas!
2. Glaubenserfahrungen
Die dritte Einsicht:
Bei einem solchen Gebet tut sich etwas: Da glimmt ein Licht auf. Da wird eine Kraft spürbar. Da keimt etwas, das wir Hoffnung nennen. Obwohl sich äußerlich noch nichts verändert hat , verändert sich doch alles, wenn wir es mit den Augen der Hoffnung ansehen.
Hiob, der zum Inbegriff des Leidens gewordene Mensch im AT, sagt: Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt (Hiob 19,25).
Und zu Ostern, nachdem die Geschichte Jesu und seiner Jünger ihren Tiefpunkt erreicht hat, entzündet sich in ihnen ein Glaube, der bis in unsere Zeit und unser Leben hineinstrahlt.
Wie gesagt: Obwohl sich äußerlich – was Krankheit und Sterben, Angst und Hass, Schuld und Leid anbetrifft – im Grunde nichts verändert hat. Wir sind trotz allen Fortschritts noch immer die anfälligen und oft hilflos umherirrenden Menschen wie zu den biblischen Zeiten. Wir haben zwar viel über die Beherrschung unserer Welt dazugelernt, aber in mancher Hinsicht machen wir es damit sogar noch schlimmer. Unsere Rettung muss aus einer anderen Dimension kommen. In diese Richtung weist uns der Glaube und das Gottvertrauen.
Wie steht es damit? Leuchtet uns das Licht und erfüllt uns die Kraft des Glaubens? Oder ähnelt unser Glaube heute mehr einem geknickten Rohr und einem glimmenden Docht, wie es schon bei Jesaja in der Bibel heißt?
Und wenn es so wäre – wir stünden damit nicht allein. Im Gegenteil!
Die vierte Einsicht:
Diese Erfahrung mit der Schwachheit und Krisen-Anfälligkeit des persönlichen Glaubens haben auch schon die ersten Christen gemacht. Als sich die verbreitete Erwartung eines nahen Weltendes und Wiederkommens Christi so nicht erfüllte und als im römischen Reich die Christenverfolgungen zunahmen, geriet auch der Glaube vieler Christen in eine Krise. Darauf wird schon in den späteren Schriften des NT selbst Bezug genommen.
Der Hebräerbrief spricht das ganz deutlich an:
Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.
Durch diesen Glauben haben die Vorfahren Gottes Zeugnis empfangen.
Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst. (Hebr 11,1-2. 12,1-3
3. Bewährungshelfer für unseren Glauben
Für wen der Glaube mehr als eine vage und unverbindliche Weltanschauung ist, der wird mit seinem Glauben auch in die Krisen und Kämpfe seiner Zeit hineingezogen.
Lebendiger Glaube ist Widersprüchen ausgesetzt und darum angefochtener Glaube. Kein fester Besitz. Nichts, von dem ich sagen könnte: Ich hab’s.
Es geht um die Bewährung in der Krise, und das ist oft sehr schwer, weil wir so schnell matt werden und den Mut sinken lassen, wie es am Ende des letzten Bibelabschnitts heißt.
Die fünfte Einsicht:
Es wichtig zu wissen und zu beherzigen, dass wir nicht allein dastehen und nicht aus eigener Kraft glauben.
Deshalb führt der Hebräerbrief in Kapitel 11 eine ganze Wolke von Zeugen an. Und er versucht den Christen seiner Zeit Hilfe und Stärkung in ihrem Glauben zu vermitteln:
Legt ab, was euch beschwert!
Lasst euch in nichts verstricken, was Gottes Willen widerspricht!
Ja, unser Leben ist ein Kampf! Ja, dazu brauchen wir Geduld!
Und vor allem: Schaut auf Jesus! Behaltet ihn und seinen Weg im Blick!
Das Wesentliche an Jesus aber ist, dass er als Mensch nicht aus seinem eigenen Ich und nach seinem eigenen Willen lebte, sondern aus seinem Verhältnis zu Gott und nach Gottes Willen. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe.
Glauben heißt, in Beziehung zu Gott leben, mit Gott im Gespräch sein. Der christliche Glaube lebt und empfängt seine Kraft aus dem Gebet.
Wir beten:
Gott, lieber Vater, wir dürfen uns als deine Kinder verstehen.
Dazu gehört auch,
- dass wir dich und deinen Willen oftmals nicht verstehen,
- dass wir uns schnell ablenken und von äußerer Macht und oberflächlichem Glanz beeindrucken lassen,
- dass wir schnell unsicher und verängstigt sind, wenn unser Glaube an dich Widerspruch erfährt,
- dass wir manchmal stur bei unseren Gewohnheiten bleiben, wenn du uns neue Wege zeigen willst,
- dass wir ohne dich unseren Halt verlieren und nicht bestehen können.
Doch du liebst uns und hast uns dazu berufen, deinem Sohn Jesus Christus nachzufolgen.
Dazu gehört auch,
- dass wir auf deine Worte hören und aus ihnen leben lernen,
- dass wir in anderen Menschen unsere Schwestern und Brüder erkennen,
- dass wir zu allem Nein sagen, was das Leben und die Würde von Menschen bedroht,
- dass wir deine gute Schöpfung achten und sie zu bewahren helfen,
- dass wir in den Krisen uns Leiden unserer Zeit nach deinem Willen fragen und nach Möglichkeiten suchen, wie wir deine Liebe sichtbar machen können.
Das alles schaffen wir nicht aus eigener Kraft. Deshalb bitten wir dich mit Jesu Worten:
Vater unser im Himmel,
geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme, dein Wille geschehe,
wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute
und vergib uns unsere Schuld
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit, in Ewigkeit.
Amen.