Gibt es einen Plan B?

Blickt man aus heutiger Sicht auf unser früheres Leben zurück, kann der Gedanke aufkommen, dass es nur wenig übertrieben sei, dieses frühere Leben mit einem Spiel im Sandkasten zu vergleichen. Als wir Kinder waren, haben wir dort mit unseren Förmchen gespielt und Kuchen zu backen versucht. Das hat oft nicht geklappt, weil der Sand gleich wieder auseinanderfiel. Schade zwar, aber auch nicht weiter schlimm.
Im Gegenteil! Es hat uns angespornt, es wieder und wieder zu versuchen. Vielleicht musste der Sand fester in die Form gedrückt oder vorsichtiger aus der Form entfernt werden. Vielleicht war er auch nicht feucht genug. Durch unsere Misserfolge haben wir gelernt, worauf es ankam. Bald hatten wir es raus. Oder jemand hat es uns gezeigt. Und dann ging es. Wir empfanden Freude bei unserem Tun und waren stolz auf unsere Ergebnisse. Und wenn doch wieder einmal etwas nicht klappte, konnten wir kurz darüberwischen, und alles war gut und bereit für das nächste Mal.
Im Sandkasten haben wir eine Ahnung davon bekommen, dass es einen Weg gibt, der uns vom Anfänger und Lehrling über den Gesellen bis zur Meisterschaft führen kann, und dass wir auf diesem Weg Geduld, aber auch Ermutigung und Hilfe durch andere brauchen.    

Heute ist so vieles anders geworden. Ich möchte im folgenden kurz auf Veränderungen im sachlich-technischen Bereich hinweisen, dann den Blick auf die menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge lenken und schließlich die Frage aufwerfen, ob wir in Zukunft weiter in dieser Spur bleiben können oder vielleicht so etwas wie einen Plan B brauchen.   

In technischer Hinsicht hat sich unser Leben in den letzten Jahrzehnten in einem Maße verändert, das im vollsten und eigentlichen Sinne dieses Wortes als unheimlich bezeichnet werden muss.  Hochkomplexe Abläufe in weltweit vernetzten Systemen eröffnen uns Möglichkeiten, die wir noch vor kurzem als Artefakte aus dem Reich von Fantasy und Science Fiction angesehen hätten.
Doch diese Möglichkeiten haben auch ihre Folgen. Schon vor 35 Jahren wies der Soziologe Ulrich Beck mit seinem Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ auf die Zusammenhänge hin. Wenn heute etwas Systemrelevantes nicht mehr richtig funktioniert, kann das – ganz anders als beim Hantieren im Sandkasten – unumkehrbare Folgen haben. Folglich ist die Bedrohung unserer Sicherheit zu einem Hauptthema geworden. Das daraus resultierende Bestreben nach Absicherung gegen alle erdenklichen Gefahren und Bedrohungen verschlingt immer mehr Ressourcen und erzeugt gleichzeitig neue Probleme, die unser Verlangen nach Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und dem Schutz unserer Privatsphäre berühren.   

Damit sind wir auch schon bei den menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Wir müssen uns an die enormen Veränderungen anpassen, wenn wir weiterkommen oder auch nur mithalten wollen.
In manchen Situationen haben wir nur einen Versuch. Wer es nicht schafft, ist raus. Dieses aufregende Spiel wird in den zahllosen Quizveranstaltungen, bei denen es um alles oder nichts geht, sogar zur Unterhaltungsshow gemacht. Sonst achten viele peinlich genau darauf, dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt wird, und diskutieren immer wieder darüber, ob und wie wir deswegen unsere Verfassung ändern sollten. Doch hier scheint es wenig Skrupel zu geben, wenn bei diesen Spielen wie auch im richtigen Leben die Menschen Tag für Tag immer wieder in winner und loser aufgespalten werden.

Inzwischen werden die Langzeitfolgen immer deutlicher sichtbar.  Wir können sie auch und gerade in unserer Sprache ausmachen. Der Satz Warte, ich zeig dir‘s mal!  hat heute oft eine ganz andere und viel düsterere Bedeutung angenommen als damals im Sandkasten. Das Bemühen um Stärkung und Sicherung der eigenen Identität verleitet zur Abgrenzung gegen die Anderen und entlädt sich oft in Feindseligkeit und Hass. Die sogenannten sozialen Medien erweisen sich dabei immer wieder als Brutstätten eines Ungeistes, der in Verbindung mit den heutigen technischen Möglichkeiten zu einer der größten Sicherheitsrisiken und Lebensbedrohungen unserer Gesellschaft geworden ist.

Die nun schon ins zweite Jahr gehende weltweite Coronakrise stellt uns als Weltgemeinschaft und auch als Einzelne vor ganz neue Herausforderungen. Um diese zu bestehen, können wir nicht einfach auf unsere gewohnten Handlungsmuster zurückgreifen, sondern müssen – gleichsam in voller Fahrt –  Gewohntes in Frage stellen, Liebgewordenes aufgeben und Unbequemes in Kauf nehmen und dabei auch die Prioritäten- und Werteliste unseres Lebensverständnisses neu überprüfen.
Dafür braucht es ruhiges Nachdenken über die komplexen Zusammenhänge und viele gute und konstruktive Gespräche, die nicht primär vom Widerstreit der unterschiedlichen Interessen, sondern von der Einsicht und dem Willen zum gemeinsamen (Über-)Leben geprägt sind.

Ob das gelingen wird? Angesichts des Weges, auf dem sich unsere Gesellschaft seit längerem befindet, lässt sich auf diese Frage realistischerweise wohl nicht ohne eine große Portion Skepsis reagieren. Wie die vorrangige Lebensorientierung am Eigennutz in der gegenwärtigen Krise mit einem verbindenden Bemühen um das Gemeinwohl in Einklang gebracht werden kann, ist vielleicht die größte gesellschaftliche und auch staatliche Herausforderung und, wie mir scheint, auch der Praxistest für unsere Zukunftsfähigkeit.
Wenn wir dabei zu dem Schluss kommen, dass es so, wie es bisher ging, nicht mehr weitergeht, dann brauchen wir eine Neuorientierung, eine Alternative für unser Handeln. Dafür wird mitunter der Begriff Plan B verwendet. Er steht für eine Umstellung und Neuausrichtung aller Mittel und Wege, um das ursprüngliche Ziel dennoch erreichen zu können. Ist so eine tiefgreifende Reformierung unseres modernen Lebens überhaupt denkbar, oder erscheint uns ein solcher Gedanke heute von vornherein als sozialromantische Utopie?       

Zu denken wagen, was unmöglich erscheint, ist immer gefährlich. Sich dabei lächerlich zu machen, gehört wohl zu den eher noch geringeren Gefahren. Ein solches Denken sollte deshalb behutsam und tastend zu Werke gehen und immer mit bedenken, dass der Weg zur Wahrheit mit vielen Irrtümern gepflastert ist. Dieses Wissen machte demütig und bescheiden, es leitet dazu an, Rechenschaft über seine Voraussetzungen und Grenzen zu geben, es strebt nach Offenheit und Transparenz und versteht sich zuerst und vor allem als Einladung zu einer gemeinsamen Suche.

Für mich ist klar, dass die Suche nach einem neuen, gemeinschaftstauglichen Lebensplan nicht ohne Rückgriff auf alte Erfahrungen und Traditionen erfolgen kann. Wir können das Leben nicht gänzlich neu erfinden, wohl aber aus den Lebenserkenntnissen unserer Geschichte neue Konsequenzen für unsere Zeit und für unsere Zukunft gewinnen. Dabei greifen wir auf Gedanken, Worte und Erzählungen zurück, die sich in der Vergangenheit als wertvoll und kulturprägend erwiesen haben und befragen sie kritisch auf ihr Gegenwartspotential. Mit einem Wort, das heute Konjunktur hat: Wir suchen nach einem geeigneten Narrativ, das uns auf dem Weg in die Zukunft als Orientierungshilfe dienen kann.

Die Schatztruhe und Mutter aller großen Narrative unserer abendländischen Tradition ist ohne jeden Zweifel die Bibel. Ein kurzer Blick genügt, um feststellen zu können, dass auch die  Frage nach einem Plan B bereits dort sehr nüchtern behandelt wird. In mythischer Form erzählt gleich das erste Buch davon, wie die Menschheit schon in ihrem Frühstadium auf endzeitliche Bahnen geraten war. Alles schien aus dem Ruder zu laufen. Ein Plan B musste her, und die radikalste Lösung schien darin zu bestehen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und das gesamte Personal auszutauschen. So etwa können wir die Sintfluterzählung (1.Mose 7) verstehen und dabei festhalten, dass das dringende Bedürfnis nach neuen Köpfen das alte Problem nicht lösen half. Schon wenig später verloren auch diese wieder jedes Maß und verhoben sich bei einem Megaprojekt, das in einer Katastrophe endete (1.Mose 11). Und so ging das durch die Jahrhunderte hindurch fort. Die Menschen genügten einfach nicht den ihnen gesetzten Maßstäben. Und das wiederholte Scheitern an diesen Maßstäben führte zu immer neuen Katastrophen. Am Ende blieb nur eine letzte Möglichkeit offen: Die Maßstäbe selbst mussten geändert werden.

Ich möchte das den Plan C nennen. C wie Christus, der den Allmächtigen, Heiligen und Vollkommenen vom Himmel geholt und zu einem neuen Leben im Vertrauen auf die Barmherzigkeit und die Liebe eingeladen hat. Wie das heute gehen kann, ist eine wirklich gute Frage und verlangt nach einem weiteren Kapitel, das bald neu geschrieben werden sollte.  

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