Seid barmherzig wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lukas 6,36)
- Hinführung: Zur aktuellen Gesprächssituation
Ein neues Jahr hat begonnen. Wir wissen nicht, was es uns bringen wird. Das haben wir nicht in der Hand. Ist demzufolge alles nur Schicksal?
Das ist eine tiefe und spannende Frage.
Um darauf eine Antwort zu finden, schließe ich eine zweite Frage an:
Ist das jetzt das Jahr 2 nach Corona? So könnte man es nennen, denn das Coronavirus hat wie kaum ein anderes Ereignis unserer Geschichte die ganze Welt in nahezu allen Lebensbereichen verändert. Wir erleben es ja auch hier in diesem Augenblick an uns und unserer Gemeinschaft. Die Maske ist zum Symbol geworden.
Ist das also jetzt das Jahr 2 nach Corona?
Oder ist es das Jahr 2021 n.Chr.?
Oberflächlich betrachtet, scheint das eine müßige Frage zu sein: Was soll diese Frage? Natürlich beides, könnte man antworten.
Doch es geht um Tieferes. Es geht darum, wie wir die scheinbar schicksalhafte Zeit betrachten. Und schon dadurch, dass wir die Freiheit haben, sie so oder so zu betrachten, ist sie bereits mehr als bloßes Schicksal.
Auf die Betrachtung kommt es an. Das wusste schon der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel. Er sagte: Unser Leben ist das, was unsere Gedanken daraus machen.
Diese Einsicht hat heute eine moderne Neuauflage erfahren, mit einem Begriff, den vor ein paar Jahren kaum jemand kannte: das Narrativ.
Ein Narrativ ist das, was wir uns sagen und erzählen. Die Gedanken, mit denen wir die komplexen Lebenszusammenhänge verdichten und auf einen Punkt bringen.
Ein Narrativ dient uns zur Orientierung und als Leitidee für unser Verhalten.
Gerade im Umgang mit Corona treffen wir heute auf solche Narrative.
Sie können als Verschwörungstheorien auftreten und alles so erscheinen lassen, als ob böse Mächte, vor allem die Reichen und Einflussreichen dieser Welt, uns einfache Menschen damit noch stärker unter ihr Joch zwingen wollen.
Weil der Begriff des Narrativs heute oft in diesem einen Sinne verwendet wird, hat er eine negative Bedeutung angenommen und wird leicht mit Verschwörungstheorien gleichgesetzt.
Doch das ist genauso falsch, wie wenn jemand behaupten würde: Worte sind etwas Schlechtes, weil man damit viel Böses sagen kann.
Wir stehen nicht vor der Frage, ob wir Narrative brauchen und gebrauchen.
Wir sind nur gefragt, welchen Narrativen wir folgen wollen.
Sie sind die notwendige Basis für unser Sehen und Verstehen.
Sie geben uns die Verständnismuster, mit denen wir unsere Welt begreifen
und einen Sinn in unserem Leben finden können.
Und bei Corona gilt das in ganz besonderem Maße:
Die Pandemie und die gegen sie ergriffenen Abwehrmaßnahmen, sind ja nicht einfach ein Problem neben vielen anderen.
Sie ist eine Herausforderung, nein: die Herausforderung, auf die wir alle – einzeln und als Gemeinschaft – eine Antwort finden müssen
Und diese Herausforderung führt – anders als bei den Flutkatastrophen vor einigen Jahren – zugleich auch zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, in die wir allein schon durch unser Verhalten unweigerlich hineingezogen werden.
Unweigerlich, denn wir können uns nicht nicht verhalten.
Aber wovon lassen wir uns dabei beeinflussen und leiten?
Damit sind wir bei der entscheidenden Frage: Es geht um die Macht und Herrschaft.
Will uns das Coronavirus beherrschen? Bzw. wollen uns andere durch das Coronavirus beherrschen? Das ist der Stoff, aus dem die Verschwörungstheorien gewebt werden.
Wie beantworten wir als Christen die Machtfrage?
2. Entfaltung: Gott in der Jahreslosung
Wie beantworten wir Christen die Machtfrage?
Nach Luther können wir zwischen der äußeren und der geistlichen Macht unterscheiden. Nehmen wir als Beispiel Dietrich Bonhoeffer: Die Nazis hatten ihn in ihrer Gewalt und haben ihn schließlich auch umgebracht. Aber sie hatten keine Macht über die Person Dietrich Bonhoeffers, der noch in ihrem Gefängnis sagen konnte:
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen, und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Wer Gott seinen Herrn sein lässt, kann frei werden von anderen Mächten, weil und wenn er vor ihnen keine Angst mehr hat.
Das hat auch eine sehr gefährliche Seite: Gott ist mit uns! Auf in den Kampf!
Mit dieser Einstellung sind schon im AT Kriege geführt worden. Und bis heute wächst daraus auch religiöser Fanatismus, der erschreckend oft und brutal zum Terrorismus führt.
Wie der Herr, so das Gescherr. Dieses weitverbreitete Sprichwort geht auf den römischen Dichter Titus Petronius (1.Jh. n.Chr.) zurück. Bei ihm heißt es: Wie der Herr, so der Sklave.
Es kommt also ganz entscheidend darauf an, WIE die oder der oder das ist, woran die Menschen glauben.
Und damit kommen wir zu unserer Jahreslosung. Auch hier spielt das kleine Wörtchen WIE die entscheidende Rolle: Wie euer Gott ist, so werdet und so sollt auch ihr sein!
Aber wie ist denn Gott?
Über Gott ist im Laufe der Geschichte so viel gesagt und geschrieben worden, ohne dass man ihn jemals ganz erfassen konnte. Und heute winken die meisten bei dieser Frage müde lächelnd ab. Was soll das denn?
Nun, das soll uns klären helfen, wie der Glaube funktioniert und was er bewirkt.
Deshalb ist es nach wie vor eine sehr wichtige Frage, wie Gott ist.
Schauen wir in die Bibel:
Dort finden sich neben vielem anderen, was über Gott gesagt wird, zwei Hauptaussagen, die sich durch alle Zeiten und Schriften hindurchziehen:
Gott ist heilig und Gott ist barmherzig.
Und auch dieses WIE, die Verbindung und Entsprechung von Gott und den Menschen, die an ihn glauben, begegnet uns da wieder.
In 3Mose19,2 heisst es: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.
Wie wir schon gesehen haben, kann dieser Satz auch gefährlich werden.
Ähnlich verhält es sich mit dem anderen Satz, der unserer Jahreslosung aus dem Lukasevangelium sogar recht nahe kommt, weil er bei Matthäus an derselben Stelle steht:
Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist (Mt 5,48).
Das lässt sich sehr leicht als ein Aufruf zum Perfektionismus (miss-) verstehen.
Ist nicht auch der Perfektionismus eine heute sehr verbreitete Form von Fanatismus?
Auch der Perfektionismus findet sich in Religion und Kirche wieder.
Dietrich Bonhoeffer hat einmal mit einem französischen Freund darüber gesprochen, was sie mit ihrem Leben vorhaben. Der Freund sagt ihm: Ich möchte ein Heiliger werden. Bonhoeffer hat ihm widersprochen und geantwortet: Ich möchte glauben lernen.
Wir haben gesehen, wie er das gelernt hat.
Heiligkeit, Allmacht, Vollkommenheit – das alles sind Begriffe die sicherlich zu Gott gehören, zu seiner unbegreiflichen Seite, an der wir nicht ohne guten Grund immer wieder zweifeln. Dieser Zweifel schützt uns auch.
Was uns aber trägt und tröstet und am Leben hält, ist seine andere Seite.
Diese Seite findet ihren deutlichsten Ausdruck darin, dass wir ihn nicht nur Herr, sondern auch Vater nennen können.
Vater in dem auch sehr mütterlichen Sinne von liebevoller Zuwendung, zu der vor allem Fürsorge, Verständnis, Mitgefühl, Vergebung, Beistand und Trost gehören.
Das alles findet sich auch im Vaterunser wieder und lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Barmherzigkeit.
3. Praxis: Das große Narrativ zu einem neuen Leben
Am Ende kommen wir nun zum Anfang unserer Jahreslosung:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist .
Wir sollten das nicht als Appell verstehen!
Appelle gibt es schon genug. Was bewirken sie?
Bei einigen gehorsame Pflichterfüllung,
bei der Mehrheit Ermüdung, recht bald inneren Widerstand und am Ende taube Ohren.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Das ist kein Appell, sondern das christliche Narrativ. Die christliche Grunderzählung, die uns gerade der Evangelist Lukas mit seinen großen ausgeführten Erzählungen wie der vom barmherzigen Samariter und der vom verlorenen Sohn ins Herz geschrieben hat.
In diesem Narrativ finden Glauben und Leben zusammen.
In diesem Narrativ wird die Orientierung, der Sinn und die Kraft des Glaubens für das Leben wirksam.
Mit diesem Narrativ können wir die Herausforderungen unserer Zeit annehmen
und das Gespräch mit den anderen Narrativen aufnehmen.
Zu dem christlichen Narrativ gehört auch: Barmherzigkeit ist nichts, was wir auf Dauer gepachtet haben. Wir alle neigen dazu, manchmal auch unbarmherzig zu sein, weil wir einfach nicht anders zu können meinen.
Wenn die Quelle der Barmherzigkeit nicht fließt, dann trocknen unsere eigenen Möglichkeiten bald aus. Deshalb steht am Anfang jedes Gottesdienstes das Kyrie eleison! Die Bitte: Herr, erbarme dich über uns!
Wir haben aber die große Möglichkeit, die Quelle der Barmherigkeit täglich neu anzuzapfen und durch uns hindurchfließen zu lassen.
Diese Möglichkeit ist das Gebet, das wir auch als die Tür zu einem neuen Leben verstehen können.
Gehen wir durch diese Tür auf Gott, den barmherzigen Vater, zu:
Barmherziger Gott, wir bitten dich:
- für alle, die überall zuerst und vor allem das Böse und Schlechte sehen. Öffne ihre Augen für das Gute, das sie umgibt.
Herr, erbarme dich! - für alle, die an der Pandemie leiden, für die Menschen auf den Intensivstationen und die, die sie pflegen und ärztlich behandeln. Schenke ihnen Hilfe und Kraft!
Herr, erbarme dich! - für alle Trauernden und die, die am Verlust geliebter Menschen zu zerbrechen drohen. Sei ihnen nahe und wärme ihre Herzen mit deiner Liebe!
Herr, erbarme dich! - für alle Menschen, die in besonderer Weise auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Schenke ihnen Hilfe und Schutz, dass sie neue
Kraft gewinnen und anderen Menschen vertrauen können.
Herr, erbarme dich! - für alle, die besondere politische Verantwortung tragen,
für den neuen amerikanischen Präsidenten und alle Staatsführer dieser Welt: Lass sie ihr Herrschen als Dienen verstehen und schenke ihnen dazu Weisheit und Entschlossenheit.
Herr, erbarme dich! - für alle, die noch immer Hass schüren und die Gräben zwischen den Menschen vertiefen. Zeige ihnen die Macht der Versöhnung und überwinde ihre Herzen mit Liebe.
Herr, erbarme dich! - für deine Kirche und für uns alle: lass uns deine Barmherzigkeit widerspiegeln und zu den Menschen tragen. Mache uns zu einem Werkzeug deines Frieden.
Herr, erbarme dich!
Amen.