so kann es nicht weitergehen! Diese Konsequenz drängt sich gegenwärtig auf. Corona ist die Krönung!
Wir haben uns ja an vieles gewöhnt. Irgendwo brennt es immer. Schlimm für die, die es betrifft! Da muss man natürlich helfen…
Aber früher oder später wird schon alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Muss ja! Und das Leben ist nun mal kein reines Zuckerschlecken!
Mit Sprüchen dieser Art schlagen wir uns durch das moderne Leben mit seinen anscheinend grenzenlosen Möglichkeiten, seiner Unübersichtlichkeit. und – damit verbunden – seinen zunehmenden Risiken und Bedrohungen, die uns immer näher rücken.
2020 stehen wir plötzlich alle miteinander vor einer Schranke, die uns Einhalt gebietet. Das gewohnte Leben muss heruntergefahren werden. Der zweite Lockdown beginnt morgen, am Montag.
Diese Unterbrechung des gewohnten Gangs ist ein tiefer Einschnitt, der große Verunsicherungen mit sich bringt. Viele Menschen haben Angst um ihre wirtschaftliche Zukunft. Andere fürchten den Verlust ihrer Freiheit. Die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft stehen vor ganz neuen Herausforderungen. Sicher scheint nur eins: Es geht nicht mehr alles seinen gewohnten Gang. Und wir können nicht länger darauf bauen, dass schon bald wieder alles so sein wird, wie wir es gewohnt waren.
Spätestens jetzt, wo wir alle direkt betroffen und unmittelbar bedroht sind, stellt sich eine Frage mit großer Dringlichkeit: Die vielen Krisen, die unser modernes Leben seit längerem schon beunruhigen – in gesundheitlicher, in weltpolitischer, in sozialer, in wirtschaftlicher und finanzieller und nicht zuletzt in ökologischer Hinsicht – sind das alles nur verschiedene Einzelprobleme, die man nebeneinander oder nacheinander mit geeigneten Instrumenten und Maßnahmen schon noch irgendwie in den Griff kriegen wird?
Oder sind sie alle miteinander Ausdruck und Folge eines Gesamtzusammenhangs, der uns immer näher an den Abgrund führt?
Die Ängste vor diesem Abgrund nehmen zu und verstärken die wachsende Spannung und Spaltung in den Gesellschaften vieler Länder, die auch selbst wie ein Abgrund erscheint. Die einen suchen schnelle Erklärungen und folgen bestimmten Verschwörungstheorien. Sie behaupten, alles ganz genau zu wissen und die Schuldigen zu kennen. Damit wird zugleich Hass gesät.
Die anderen lehnen das ab. Doch haben sie es sehr schwer, die Ängste mit besseren Antworten abzubauen.
Gibt es historische Parallelen, die uns für den Umgang mit und für den Ausweg aus diesen Krisen als Modell dienen können? Mir scheint, dass die Erinnerung an die Reformation dafür recht erhellend und hilfreich sein kann.
Luther hatte nach langem inneren Ringen erkannt, dass das ganze Glaubens- und Wertesystem seiner Zeit an der Wurzel krank war.
Diese Wurzel war die buchstäbliche Höllenangst, die wir auf alten Gemälden noch heute sehr anschaulich vor Augen geführt bekommen.
Ausweglos vor diesem letzten und tiefsten Abgrund zu stehen, muss schrecklich gewesen sein. Es schien kein Mittel gegen die Schuld und Sünde der Menschen zu geben. Die ewige Verdammnis war unausweichlich.
Deshalb wurde versucht, mit Geld gegenzusteuern: Über den Ablasshandel sollten die Ängste der Menschen abgebaut und zugleich die Peterskirche in Rom aufgebaut werden. Doch Luther hatte schließlich erkannt und konsequent verdeutlicht, was viele Menschen ähnlich empfunden haben werden: Geld allein kann nicht die Lösung sein.
Uns heute mag die Höllenangst vor fünfhundert Jahren sehr fern und illusorisch erscheinen. Für die Menschen damals war sie eine ganz nahe und reale Erfahrung und Bedrohung ihres Lebens.
Und es war ein langer Weg und ein erbittertes Ringen auf allen persönlichen und öffentlichen Ebenen, bis die Reformation immer mehr Menschen erreichte, um sie endlich aus diesem kranken Glaubens- und Wertesystem zu befreien und so auch die Gesellschaft – nachhaltig – zu verändern.
Am Anfang stand eine zentrale Frage, die den Stein allmählich ins Rollen brachte: Luthers Frage nach der Rechtfertigung des Menschen:
„Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“
Vor den Antworten stehen die Fragen. Es ist von entscheidender Bedeutung, die richtigen, die wegweisenden Fragen zu stellen und miteinander zu teilen, damit Antworten nicht nur gefunden, sondern auch gelebt werden können.
Gibt es in den aktuellen Krisen unserer Zeit auch so eine zentrale Frage?
Wir brauchen gar nicht lange nach ihr zu suchen, weil sie sich immer wieder von selbst aufdrängt:
Wie kriegen wir eine überlebensfähige und lebenswerte Gesellschaft?
Diese Frage verbindet uns mit allen Menschen. Weil – um einen weiteren oft gebrauchten Spruch zu zitieren – weil wir alle miteinander in einem Boot sitzen und trotz aller Unterschiede zwischen den Menschen gemeinsam
leben oder untergehen werden.
Das ist das Erste, das wir uns in aller Deutlichkeit klarmachen sollten.
Deshalb sind Rangeleien auf diesem Boot eine große Gefahr.
Sie müssen friedlich geregelt werden. Angesichts des Abgrundes besitzt die Stabilität des Bootes höchste Priorität.
Dazu braucht es die Einsicht, die Aufmerksamkeit und die Verantwortung jedes Einzelnen. Wir alle müssen lernen,
- was unser gemeinsames Überleben bedroht
- wo in unserer Umgebung konkrete Gefahren entstehen und
- wie wir aktiv dagegen vorgehen können, ohne dadurch selbst zu einer neuen Bedrohung für das Boot zu werden.
Gegenwärtig ist es noch völlig offen, ob diese Reformation unserer Gesellschaft gelingen wird. Wir tun gut daran, wenn wir uns zuerst die entscheidende Frage zu eigen machen und mit vielen unterschiedlichen Menschen und Gruppen intensiv darüber nachdenken:
Wie kriegen wir eine überlebensfähige und lebenswerte Gesellschaft?
Diese Reformation kann nur gelingen, wenn wir nicht nur die eigene Rechtfertigung suchen, sondern auch die Wahrheit und das Recht des Anderen akzeptieren. Das heißt auch, dass die Zeit für Vorrechte oder gar Absolutheitsansprüche vorbei sein muss.
Spätestens an dieser Stelle stellt sich auch die Frage nach der Religion.
Ist sie – wie so oft in der Geschichte und bis heute – eher ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung?
Als Christen können wir darauf eine gute Antwort geben, wenn wir das Evangelium Jesu neu hören und zeitgemäß in unsere Gespräche einbringen:
Selig sind, die nicht alles vom Geld abhängig machen,
denn ihnen steht der Himmel offen.
Selig sind, die ihre Fragen und Probleme nicht verdrängen,
denn sie werden Antworten finden.
Selig sind, die ihr Leid und ihre Sorgen nicht auf andere abwälzen,
denn sie werden Gemeinschaft erfahren.
Selig sind, die nach Gerechtigkeit suchen,
denn sie werden neue Gerechtigkeit erleben.
Selig sind die Barmherzigen,
denn ihnen wird die Liebe begegnen.
Selig sind die reinen Herzen sind,
denn sie werden die Wahrheit Gottes entdecken.
Selig sind die Friedfertigen,
denn sie werden die Feindschaft überwinden.
Selig sind, die sich nicht von Spott und Hass abschrecken lassen,
denn sie sind auf dem Weg in Gottes Zukunft.